Auf Seite 510 tritt der Autor dann endlich selbst auf. Und gibt sich den etwas spröde klingenden Namen Rudolf Kaczmarek. Nun ist es nicht so, dass Christoph Hein die ersten 500 Seiten auf diesen Moment hingearbeitet hätte – als ein eitler Schreiber präsentiert er sich in seinem neuen Roman Das Narrenschiff nicht, eher als ein akribischer Chronist –, trotzdem war klar, dass er irgendwann selbst auftauchen würde, wenn auch in einer Verkleidung. Denn eine der Hauptfiguren seiner opulenten DDR-Geschichte ist seine verstorbene erste Ehefrau Christiane. Im Buch hört sie auf den Namen Kathinka. Mithin erzählt Hein im Narrenschiff auch einen Teil seiner eigenen Familiengeschichte. Den des angepassten, das Unrechtssystem tragenden, angeheirateten Teils, um das gleich vorwegzunehmen. Eine Renegaten-Geschichte erwartet uns also nicht.
Aber noch mal einen Schritt zurück: Als man mit dem dicken Leseexemplar von Heins Buch ins mütterliche Haus nach Leipzig fuhr, um es dort in Ruhe zu lesen, war die Bundestagswahl erst ein paar Tage her. Und der Osten war tiefblau geworden. In Sachsen jedenfalls gibt es nur einen kleinen Flecken, der linksparteirot geblieben war. Und auf diesem Flecken, in dieser Oase, befindet sich das Elternhaus.
Die Mutter, nur zwei Jahre jünger als der nun 80-jährige Christoph Hein, nahm sich sofort das Buch, setzte sich in ihren Lese- und Kreuzworträtselsessel und begann zu lesen. So ist das wohl, wenn man wie Hein über Jahrzehnte eine nahezu beispiellos wichtige Rolle für die ostdeutsche Leserschaft innehat. Die Frage aber, warum man aus dieser reichlich finsteren Gegenwart und aus der nur wenig helleren Vergangenheit erzählt, stellt sich ja. Und auch: Hat Hein denn eine Antwort darauf?
Ein „Narrenschiff“ sei die DDR im Rückblick gewesen, findet er. Und beginnt damit, quasi von Tag eins an, zu erzählen. Tag eins aber bedeutet für Hein eben nicht Stunde null. Denn der mürrische und etwas kaltherzige Johannes Goretzka kommt da gemeinsam mit anderen Kommunisten aus dem Moskauer Exil zurück in die Ostzone. Einst war er Feldwebel bei den Nazis gewesen. Dieser Johannes trifft dann recht bald auf Yvonne, eine eher unsichere Frau, deren erster Mann wiederum, ein Jude, den Nationalsozialismus nicht überlebt hat. Johannes und Yvonne heiraten nicht aus Liebe, sondern um durch die kargen Zeiten nicht allein kommen zu müssen. Und weil der einbeinige Goretzka sich mit einer jüngeren Frau und deren Tochter Kathinka an seiner Seite besser gewappnet fühlt für seinen Aufstieg in der Partei und dem sich zu besseren, sozialistischen Zeiten aufschwingenden neuen Land.
Hein begleitet das ungleiche Paar durch die Jahrzehnte, ebenso wie die beiden Emsers. Auch er, Prof. Dr. Karsten Emser, ist ein Kommunist mit Hotel-Lux-Vergangenheit. Er ist sogar Mitglied im
SED-Zentralkomitee. Seine jüngere Frau Rita ist
im Magistrat der Stadt Berlin beschäftigt. Ungleich auch dieses Paar, aber treue Genossen allesamt. „Rote“, wie man früher gesagt hätte.
Die Emsers und die Goretzkas helfen einander durch gute wie durch schlechte Zeiten. Und sie treffen sich regelmäßig zu Abendessen, bei denen die Frauen natürlich nichts von ihren Seitensprüngen erzählen. Die bereden sie woanders. Hier lauschen alle eher den Ausführungen und Neuigkeiten Emsers aus dem ZK. Wirklich aus dem System heraus fallen die vier nie, aber sie geraten mitunter aufs berühmte Abstellgleis.
Zuerst trifft es Goretzka, Mitte der Fünfzigerjahre, mittlerweile zuständig für den Bereich Schwarzmetallurgie im Bezirk Potsdam. Goretzka hatte dem Plan der SED widersprochen, die geplanten Investitionen in seinem Sektor zurückzufahren, um sie stattdessen in „empfindliche Lücken im Konsumsektor“ zu stecken und „die schlechte Versorgungslage der Bevölkerung zu beheben“. Und Emser wird ihm wenig später im schweren Ledersessel vor einem kleinen Messingtisch mit Pfeifen darauf die missliche Lage, in die er sich selbst gebracht hatte, mit folgenden Worten erklären: „Man darf sich irren. Aber nie gegen die Partei. Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Irrtum nicht teilst. Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht.“