Der 50-jährige Mann ist ein interessantes Problem. Er hat ein Alter erreicht, in dem er weiß, dass allem Neuen die Vergänglichkeit eingeschrieben ist. Er ist milde abgeklärt gegenüber allem Aufgeregten, jedem Tamtam, gegenüber aller Scheinfrische, aber das verheimlicht er. Er zeigt einen wachen Blick, dabei weiß er um die Verfallsdaten großer Gefühle. Er ist ein bisschen abgefuckt, etwas abgestumpft. Aber das würde er sich nie ansehen lassen (niemals!), denn der Zeitgeist verlangt Jugendlichkeit bis ins zehnte Lebensjahrzehnt, den Bambiblick ins Offene. Jugendlichkeit muss heute eine Haltung sein und soll nicht etwa einen Lebensabschnitt umfassen (wohl ein Effekt der Überalterung der Gesellschaft).
Der 50-jährige Mann fällt auf die Selbstlügen nicht mehr herein, er hat nicht mehr die Illusion, noch etwas Entscheidendes zu erleben. Er ist so verdammt müde, aber er zeigt sich sehr agil, sehr wissbegierig. Er muss immerzu signalisieren: Auch er mache noch Fehler und lerne! In Wahrheit lernt er kaum noch etwas und macht kaum noch Fehler. Denn er weiß es verdammt noch mal besser, aber das behält er für sich. Ja, der 50-jährige Mann weiß sehr genau, wie er sich verhalten muss, um symphatisch zu wirken. Gerade als Mann ja nicht unwichtig. Und dann wieder ist er sehr traurig über genau dieses Wissen. Es nimmt ihm jede Leichtigkeit, die er so beherrscht zu inszenieren vermag. Das ist das Fatale am 50-jährigen Mann: Er ist, weil er sich heute immerzu zeigt, wie er nicht ist, ziemlich melancholisch. Er ist sentimental. Er muss sich so zusammenreißen! Er ist in den Wechseljahren. Er ist in dieser Lebensphase zynisch und weinerlich zugleich – keine extragute Mischung.
Es ist bewundernswert, wie es Lucy Fricke in ihrem Roman Das Fest gelingt, einen solchen allzu typischen Mann unserer Zeit in seinen besten Jahren zu porträtieren. Jakob, einst schön wie ein junger Gott, ist ein besonders ramponiertes und liebenswertes Exemplar seiner Gattung. Ein Regisseur, kinderlos, in Berlin lebend, mittlerweile beruflich erfolglos. Der ganz große Durchbruch ist ihm nie geglückt, jetzt ist er aussortiert worden, weil die Jüngeren nachrücken. Außerdem ist Jakob „zu weiß oder mindestens zu heterosexuell“. Wir erleben ihn am Tag seines 50. Geburtstags, den er liebend gern allein verbringen möchte, aber da steht seine gute alte Freundin Ellen vor der Tür und schubst ihn in den brüllend heißen Sommertag. Die Leser kapieren schnell, dass es kein Zufall sein kann, dass Jakob an diesem Tag unentwegt Menschen trifft, die sein Leben geprägt haben, die er aber viele Jahre nicht gesehen hat: die Kindergartenfreundin Neela, seine erste langjährige Freundin Inken, den engen Freund Georg aus dem Studium. Als hätte der liebe Gott mit einer besonders unwahrscheinlichen Kette von Ereignissen einen Tag für Jakob gestaltet, als wäre der Regisseur in einen Film über sein bisheriges Leben geraten. Bei einem solchen Tag kann es sich, man ahnt es, nur um ein verrücktes Geschenk handeln. Und das ist so eine wunderbar simple erzählerische Idee, dass man sich fragt, wieso niemand vorher darauf gekommen ist.
Lucy Fricke, im Alter ihres Protagonisten und bekannt geworden mit ihren erfolgreichen Romanen Töchter (2018) und Die Diplomatin (2022), hat eine seltene Begabung für Slapstick, für Klamauk, für eine helle, menschenfreundliche Komik. Schmerzhafte Ungeschicklichkeiten reihen sich aneinander, und man erwartet vorfreudig das nächste Malheur. Jakob schlägt sich in diesem so kurzweiligen, nur 138-seitigen Roman den Kopf ein und verliert einen Zahn, er verstaucht sich an seinem Geburtstag den Fuß und kriegt ein blaues Auge verpasst. Das kommt davon, wenn man sich in den besten Jahren vor Frauen gelenkig und lebenslustig zeigen will. Das Gesicht von fast jedem gerät im Laufe des Lebens zur überambitionierten Wohnlandschaft, im Falle Jakobs gilt das ganz besonders.
Wir dürfen hier nicht alles verraten, schon gar nicht, dass wir es mit dem Fest vor allem mit einem großen Liebesroman zu tun haben. „Man verliebt sich“, heißt es ganz beiläufig, „nur noch in die, die man schon kennt. Ein Gefühl, als würde man mit seiner eigenen Jugend im Bett liegen.“ Und: „Je älter wir werden, desto mehr geht es um das, was wir verlieren können, weniger um das, was es zu gewinnen gibt.“
Das ist einer dieser lebenserfahrungssatten Sätze, mit denen dieser auch sehr weise Roman reichlich gesegnet ist. Weder die Frau noch der Mann in besten Jahren verlieben sich noch umnachtet, ihre Liebe entspringt der Niederlage, ihr Sehnen den erlittenen Schicksalsschlägen. Man kennt sich zu gut, und man weiß, was man hat. Das klingt zu abgeklärt? Vielleicht, aber es ist das größte Glück.
Lucy Fricke: Das Fest. Roman; Claassen, Berlin 2024; 144 S., 20,– €, als E-Book 16,99