Das EU-Recht erzwingt keinen höheren Mindestlohn

Das EU-Recht erzwingt weder eine Anpassung des deutschen Mindestlohngesetzes noch aktuell einen Sprung der Verdienstuntergrenze von 12,41 Euro auf 14 oder 15 Euro. Das eine stellt das Arbeitsministerium fest, das andere ergibt sich aus dem Ersten. Im Bundesgesetzblatt (Nummer 313 vom 23. Oktober) verkündet das Haus von Hubertus Heil (SPD) nüchtern, die EU-Mindestlohnrichtlinie werde durch das deutsche Recht ordnungsgemäß umgesetzt. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang. Dies liegt nicht an der Feststellung als solcher (sie entspricht der Einschätzung vieler Fachleute), sondern an der Vorgeschichte.

Der Arbeitsminister hatte vor Kurzem insinuiert, dass gegebenenfalls das deutsche Recht geändert werden muss, um den europäischen Vorgaben zu genügen. Der SPD-Politiker hatte die unabhängigen Mindestlohnkommission aufgefordert, den Mindestlohn kräftig zu erhöhen. In dem Schreiben vom 9. September formuliert Heil die Erwartung, dass das Gremium nächstes Mal den „Referenzwert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns“ berücksichtigt. Nach Hochrechnung der Gewerkschaften wären das 15,27 Euro.

Kunstvoll verknüpfte Heil seine Erwartung mit dem EU-Recht. Er erinnerte daran, dass er Brüssel bald melden müsse, ob die EU-Richtlinie umgesetzt sei. Der Mindestlohnkommission schrieb er: Er sehe die Richtlinie als erfüllt an, wenn der 60-Prozent-Referenzwert berücksichtigt werde.

Die Kommission fasst ihre Beschlüsse alle zwei Jahre

In der europäischen Richtlinie ist zwar von Referenzwerten die Rede. Aber welche die Mitgliedstaaten heranziehen, bleibt ihnen überlassen. Unverbindlich heißt es: Sie könnten auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte nutzen „wie 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden“.

Das deutsche Gesetz wiederum gibt der unabhängigen Mindestlohnkommission vor, „im Rahmen einer Gesamtabwägung“ zu prüfen, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, „zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden“.

Weiter heißt es dort: „Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.“ Die Kommission fasst ihre Beschlüsse alle zwei Jahre im Juni jeweils mit Wirkung zum 1. Januar das Folgejahres.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verbindet den gesetzlichen Auftrag mit einer politischen Forderung. Er wies in seiner am Samstag verbreiteten Videobotschaft darauf hin, dass die Löhne in Deutschland in den vergangenen Monaten so stark gestiegen seien „wie seit Langem nicht“. Bei einer solchen Verknüpfung läge der Mindestlohn bei „um die 14 Euro“ in der Stunde, sagte er. Schon im Frühjahr hatte sich Scholz dafür ausgesprochen, die gesetzliche Lohnuntergrenze schrittweise auf 15 Euro zu erhöhen. Auch aus den Reihen von Grünen und Gewerkschaften gibt es regelmäßig Rufe, sie auf dieses Niveau zu schrauben.

2021 hatte Scholz mit dem Mindestlohn Wahlkampf gemacht. Er versprach, die Untergrenze zügig auf zwölf Euro hochzusetzen – notfalls an der Kommission vorbei. So geschah es zum 1. Oktober 2022. Dies entsprach einem Plus von 25 Prozent in zwölf Monaten. Das hatte mit einer nachlaufenden Orientierung an den Tariflöhnen nichts zu tun. Im Sommer 2023 folgte die reguläre Anpassung.

Mit Mehrheit entschied die Kommission, den Mindestlohn 2024 auf 12,41 Euro und 2025 auf 12,82 Euro zu erhöhen – allerdings nicht im Konsens, vielmehr setzen das die Arbeitgeber mit der Vorsitzenden gegen die Gewerkschaften durch. Über die Anpassung für 2026 wird die Kommission Mitte 2025 entscheiden. Der Kanzler und der Arbeitsminister von der SPD bauen schon einmal Druck auf.

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