Es ist eine der Lehren der Corona-Pandemie, dass nur nachvollziehbare, möglichst einheitliche Regeln befolgt werden. Wenn die Kriterien klar und verständlich sind und die Grenzwerte bundesweit gelten, hält sich die Mehrheit daran. Das bestätigen Forschende, die über die Zeit der Pandemie hinweg das Verhalten der Bevölkerung untersuchten.
Bisher war Konsens unter den politisch Verantwortlichen Deutschlands, die Schutzmaßnahmen einheitlich zu gestalten, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Richtwert für die Maskenpflicht, Regelungen wie 3G oder Betriebsschließungen waren bestimmte Schwellenwerte der Sieben-Tage-Inzidenz, die Bund und Länder in teils schmerzlichen und aufreibenden Nachtsitzungen erfolgreich untereinander abstimmten.
Die meisten Maßnahmen sind mittlerweile entfallen. Nur noch Maskenpflicht im ÖPNV und im Fernverkehr sind übrig, im Gesundheits- und Pflegesektor Maske und Test – dort also, wo die vorerkrankten oder hochbetagten, besonders gefährdeten Menschen sind.
Das, was an Schutzvorschriften jetzt noch gilt, erodiert in unverantwortlicher Weise. Ein Regelungschaos hat das System der nachvollziehbaren und einheitlichen Corona-Einschränkungen verdrängt. In der auslaufenden Pandemie schaffen einige Landesregenten die Maskenpflicht im ÖPNV ab – in Sachsen-Anhalt sogar gegen das Votum der eigenen Gesundheitsministerin. In Bayern gilt das ab Samstag. In fünf Bundesländern entfiel zudem die Isolationspflicht. Auf Drängen der FDP dürfen Flugpassagiere auf Masken verzichten, während Fahrgäste im ICE sie weiter tragen müssen. Andere Landesregierungen wiederum halten eisern an ihren Schutzmaßnahmen fest.
„Mein Bundesland zuerst, meine Partei zuerst!“, das ist zum Mantra der Politik geworden in der endenden Pandemie. Corona-Prävention ist jetzt nicht mehr bestimmt durch Konsens und Abwägung, sondern durch Rechthaberei und die Größe des Egos der Regenten. Die Bürger sind dabei zweitrangig geworden. Das unterläuft ihr Vertrauen darauf, dass die gewählten Regierenden im Kampf gegen das Virus geeignete und verhältnismäßige Mittel wählen.
Entstanden ist in Deutschland jener Flickenteppich, den die Politik drei Jahre lang immer vermeiden wollte: Positiv getestete Bayern dürfen in Bayern zur Arbeit fahren, wenn sie wollen. Als Pendler nach Thüringen dürfen sie nur bis zur Landesgrenze. Oder: Wer jetzt mit dem Regionalzug von Braunschweig nach Berlin reist, kann hinter Helmstedt die Maske absetzen, muss sie ab Landesgrenze Brandenburg aber wieder hervorkramen – obwohl es ein und derselbe Zug ist. Das verstehe, wer will.
Bisher war die Bundesrepublik als Ganzes eine Sonderzone in Europa. Denn die Nachbarstaaten hatten ihre Schutzmaßnahmen schon vor Monaten auslaufen lassen. Passagiere, die aus dem Ausland per Bahn einreisten, wurden erst beim Passieren der Bundesgrenze daran erinnert, dass es das Coronavirus noch gibt, weil sie die Maske aufsetzen mussten. Jetzt aber ist Deutschland selbst durchsetzt von solchen Grenzen, hinter denen sich das Virus vermeintlich anders verhält als davor. Was für ein Rückschritt.
Die Corona-Schutzpolitik soll den Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit geben und die Gewissheit, in Abwägung aller Risiken und Rechte bestmöglich geschützt zu sein. Diese Politik hat sich nun in ihr Gegenteil verkehrt: Es ist nicht nachvollziehbar, warum ohne erkennbaren Grund in einer Region Deutschlands die Maske und Isolation Pflicht sind und wenige Kilometer weiter nicht. Deutschland hat sich mit seinem europäischen Corona-Sonderweg in eine Sackgasse manövriert, aus der die Bundesländer nun mit Gewalt über die Gartenzäune hinweg ausbrechen, statt gemeinsam nach der Strecke zum Ziel zu suchen.
Geboten wäre eine Corona-Politik, die auch nach links und rechts schaut. Etwa in die Nachbarländer, die mittlerweile mit dem Virus friedlich koexistieren, wo längst Normalität eingekehrt ist. Die Politik muss ihre gesellschaftlichen Folgen in den Blick nehmen. So aber reibt sie die Bevölkerung auf zwischen einem Bundesgesundheitsminister, der nicht als Politiker, sondern als Mediziner agiert, und egozentrischen Landesfürsten, die sehenden Auges Verwirrung stiften. Die Bürgerinnen und Bürger suchen sich dann nämlich ihren eigenen Weg: Sie ignorieren Schutzvorschriften einfach, die ihnen nicht sinnvoll, geboten und nachvollziehbar erscheinen.