Christoph Butterwegge diskutiert mit Betroffenen oberhalb Armut: Bitte mehr davon!

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge sprach in Köln über Armut in Deutschland. Auch Niedriglöhnerinnen und chronisch Kranke berichteten – so geht anregende Diskussion in rauen Zeiten, findet unsere Kolumnistin


Die Agenda 2010 hat in Deutschland den größten Niedriglohnsektor der EU geschaffen, erklärt der Armutsforscher Christoph Butterwegge

Foto: Photothek/Imago Images


Ende Oktober fand in Köln ein Vortrag von Christoph Butterwegge, dem wohl bekanntesten Armutsforscher Deutschlands, statt. Der Titel lautete: Gefährdet Armut die Demokratie? Schon Stunden vorher waren die engagierten Organisator/innen vor Ort, um Stühle, Plakatwände und Infotische aufzustellen. Gut 90 Stühle waren vorhanden, die im Laufe des Abends nicht mehr ausreichten. Moderiert wurde der Abend humorvoll und informativ von Sonja Waszerka, ehrenamtliche Sprecherin des Erwerbslosenausschusses Köln-Bonn-Leverkusen der Gewerkschaft Verdi.

Der Geschäftsführer des lokalen Verdi-Verbandes, Tjerk Sauer, wies zu Anfang des Abends darauf hin, dass Gewerkschaften vom Mitmachen leben. Verdi sei die Erwerbslosenarbeit und -Politik wichtig und man habe somit nicht nur Platz für arbeitende Menschen.

Aus aktuellem Anlass kam die Geschäftsführerin des Bürgerzentrums Alte Feuerwache Köln ebenfalls zu Wort und wies darauf hin, dass das Bürgerzentrum massiv von Kürzungen betroffen sei. Die Zukunft sei ungewiss, wenn weitere Gelder eingespart werden müssten. Bürgerzentren seien Orte des Dialogs und des Austausches und förderten somit die Demokratie. Ein Verlust dieser wichtigen gesellschaftlichen Treffpunkte würde sich negativ aufs das gesellschaftliche Klima auswirken. Christoph Butterwegge merkte an, dass es schon eine gewisse Ironie hätte, dass die Stadt Köln Theater- und Opernhäuser mit Millionenbeträgen sanieren könne, aber es an Mittel für die Bürgerzentren fehlen würde.

Butterwegge erzählte als begnadeter Redner später, dass er 10 Jahre lang erwerbslos war. Er mahnte die Politiker/innen, mit ihrem „Wettbewerb der Schäbigkeiten“ bezüglich der Bürgergeldempfänger/innen aufzuhören. Als ehemaliger Sozialleistungsbezieher wisse er, wovon er spricht, wenn er sagte: „Armut ist mehr als wenig Geld im Portemonnaie zu haben. Armut ist verbunden mit Stigmatisierung, Ausgrenzung und Abwertung.“

Er betonte, dass er den Vorteil einer unterstützenden Familie hatte in dieser Zeit, die ihm viele Sorgen abnahmen. Durch seine Forschungsarbeit, begonnen mit dem Thema Rechtsextremismus in den 1990er Jahren, wurde er nach der Wende auf das Problem der hohen Kinderarmut aufmerksam. Seitdem beschäftige er sich mit dem Thema Armut und Ungleichheit.

Keine Politik für Armutsbetroffene

Der Sozialwissenschaftler sehe die sozioökonomische Ungleichheit als Kardinalproblem der Welt an. Wachsende Armut werde von Politik und Medien nicht ernst genug behandelt, hinterfragt und geschildert. Armut werde besonders vor Weihnachten in voyeuristischer Form durch Spendenaufrufe vermittelt. Das karitative Handeln löse aber nicht das strukturelle Armutsproblem. Zumindest kurzfristig etwas getan zu haben, beruhige nur das Gewissen. Die Pandemie habe uns in Deutschland eindrücklich gezeigt, wie stark die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in Deutschland sei, indem sie gesundheitliche und materielle Unterschiede betonte.

Mit deutlichen Worten mahnte er davor, Armut zu individualisieren und vereinfacht auf „nicht genug Bildung“ zu reduzieren. Das Narrativ „Arme sind ungebildet und dadurch selber schuld an ihrer Armut“, sei nichts weiter als eine politische Instrumentalisierung des Bildungsthemas und diene als bequeme Erklärung dafür, nicht über Umverteilung nachdenken zu müssen.

Als Ursache für die Verstärkung der Ungleichheit nannte Butterwegge die Deregulierung des Arbeitsmarktes: Die Agenda 2010 hätte in Deutschland den größten Niedriglohnsektor der EU geschaffen. Er zeigte die Unterschiede vor und nach dem Einführen der Agenda 2010 auf. Der Wegfall der Arbeitslosenhilfe und das Zusammenführen mit der Sozialhilfe spare zwar Geld, gleichzeitig würden Armutsbetroffene aber noch stärker benachteiligt. Die Ungleichheit sei gestiegen durch eine Steuerpolitik, die die Reichen bevorzugt: Auf Milch und Brot fällt Mehrwertsteuer an. Goldkäufe hingegen sind steuerfrei!

Und wer superreich sei, sei auch politisch einflussreicher. Er sehe eine politische Repräsentationskrise, da Arme aus verschiedenen Gründen politikverdrossen sind. Es werde ja auch keine Politik für sie gemacht, dabei sollte eine repräsentative Demokratie alle Bevölkerungsschichten gleichwertig vertreten!

Nach einer kurzen Pause konnte das Publikum Fragen stellen. Die Moderatorin merkte an, dass sich im Vortragsraum auch Armutsbetroffene befanden, was nicht oft vorkäme und dass diese respektvoll zu behandeln seien. Im Angesicht der Polemik gegen Bürgergeldempfänger/innen war es notwendig, diese Ansage zu machen, damit sich die Armen im Publikum etwa sicherer fühlen konnten. Einerseits war ich froh, dass es gesagt wurde – anderseits war es traurig, dass man vom Hausrecht Gebrauch machen muss, wenn Diskussionen in die falsche Richtung laufen.

Die Redebeiträge waren bereichernd: Eine Frau erzählte von ihrer Arbeit im Niedriglohnsektor, eine weitere Frau, chronisch krank, berichtete über ihre schockierende Erfahrungen mit der medizinischen Versorgung Armutsbetroffener und den bürokratischen Hürden. Zeitweilig war die Unsicherheit und die Sorge über das aktuelle gesellschaftliche Klima deutlich spürbar.

Mein Fazit: Es braucht mehr Veranstaltungen wie diese. Demokratie lebt vom aktiven Mitmachen, vom Austausch, von Diskussionen und dem Wahrnehmen verschiedener Weltbilder.

#Armutsbetroffen

Janina Lütt lebt mit ihrem Kind in Elmshorn. Auf freitag.de schreibt sie eine regelmäßige Kolumne über den Kampf mit und gegen Armut

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