Dennis Radtke ist seit vergangenem Jahr Chef der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), des Arbeitnehmerflügels der CDU. Er ist der Nachfolger von Karl-Josef Laumann, der mehr als 20 Jahre lang an der Spitze der CDA stand.
Radtke ist gebürtiger Bochumer, er arbeitete zehn Jahre lang als Gewerkschaftssekretär – und war eigentlich einmal SPD-Mitglied. Mit dem Freitag spricht er über falsche Themensetzung seiner CDU, fehlende Politik der schwarz-roten Bundesregierung für die arbeitende Bevölkerung und eine verschärfte Besteuerung von Reichen.
der Freitag: Herr Radtke, Sie haben einmal gesagt, man müsse leidensfähig sein als Gewerkschafter in der CDU. Wo stehen Sie zurzeit auf der Schmerzskala?
Dennis Radtke: Ein gerüttelt Maß an Leidensfähigkeit habe ich in den letzten Wochen und Monaten schon gebraucht, das stimmt. Wobei Sie mein Zitat nur halb wiedergeben. Ich hatte noch dazugesagt, dass man auch als Christdemokrat in einer Gewerkschaft leiden können muss. Historisch gesehen war die SPD der natürliche Bündnispartner der Gewerkschaften. Dass die CDU auch von katholischen Gewerkschaftern maßgeblich mitgegründet wurde, wird leider oft vergessen.
Ich frage nach Ihrer Leidensfähigkeit, weil Sie Ihre Partei und Kanzler Friedrich Merz in letzter Zeit auffallend oft öffentlich kritisieren: in der „Stadtbild“-Debatte oder zur Forderung nach mehr privater Vorsorge bei Rente, Pflege, und Gesundheit. Merz’ Innenpolitik benoteten Sie mit einer „Drei oder Vier“. Haben Sie als CDA-Vorsitzender auch einen guten Draht zum Kanzler für persönliche Kritik?
Natürlich habe ich auch die Möglichkeit, Anregungen und auch Widerspruch bei Friedrich Merz persönlich unterzubringen. Das mache ich auch. Wobei eigene Positionierungen in der Sache keine persönliche Kritik am Kanzler sind.
Es fällt auf, dass eine starke christlich-soziale Stimme im aktuellen Kabinett fehlt – eine Seltenheit in der Geschichte CDU-geführter Regierungen. Wieso hat Friedrich Merz so entschieden?
Es stimmt, dass die aktuelle Regierungsmannschaft der Union niemanden mit einem klaren christlich-sozialen Profil aufweist. Warum das so ist, müssen Sie aber Herrn Merz fragen. Mit mir oder anderen führenden CDA-Akteuren hat er das nicht besprochen oder es erklärt.
Dass CDA-Mitglieder im Kabinett von Friedrich Merz fehlen, das merkt man
Hat die CDA trotzdem einen Einfluss auf die Regierungspolitik?
Im Koalitionsvertrag findet sich durchaus die Handschrift der CDA. Zum Beispiel die Sicherung des Rentenniveaus bei 48 Prozent. Oder die Forderung, dass Lkw-Fahrer an deutschen Raststätten kostenlos duschen und ihr Trinkwasser auffüllen können. Darüber kann man schmunzeln, aber das wird das Leben einer ganzen Berufsgruppe besser machen. Aber klar, worüber das Land politisch gerade so diskutiert, hängt maßgeblich von den Einwürfen von Kabinettsmitgliedern ab. Und dass die CDA da fehlt, merkt man.
Woran konkret?
Die Agenda, die sich diese Bundesregierung gesetzt hat, ist insgesamt zu verengt. Wir haben Debatten über Migration und Bürgergeldreform, die teilweise ins Absurde abgleiten. Und daneben sehr viele soziale Themen, die bisher unbearbeitet geblieben sind. Dass das ein Fehler ist, sieht man ja auch an den sinkenden Umfragewerten von Union und SPD.
Sie selbst warnten kürzlich, 5,3 Millionen Menschen könnten sich nicht mehr leisten, ihre Wohnung vollständig zu heizen.
Und genau solche Probleme treiben die Leute zur AfD. Wir haben immer mehr Menschen, die arbeiten und trotzdem nicht über die Runden kommen. Ich lebe in Bochum-Wattenscheid. Das ist sicherlich nicht der heiße Scheiß auf dem deutschen Wohnungsmarkt, aber selbst hier sind die Bestandsmieten in den letzten zehn Jahren um 47 Prozent gestiegen. Energiekosten, Lebensmittelpreise, fehlende Pflegeplätze. Solange wir diese Probleme nicht anpacken, wird sich nichts am Zustrom zur AfD ändern, selbst wenn noch der letzte illegale Asylbewerber abgeschoben wird.
Aber geht die Regierung diese Probleme denn an? Wenn sie es tut, bekommt man es kommunikativ jedenfalls nicht mit.
Ja, wenn sie es tut, bekomme ich davon auch nichts mit.
Wenn Sie sich die Umfragen ansehen, haben Sie dann den Eindruck, dass die Strategie einer immer höheren Dosierung der Migrationsdebatte erfolgreich ist?
Stattdessen spricht Friedrich Merz über sogenannte „Probleme im Stadtbild“, die durch „Rückführungen“ zu lösen seien. Es scheint, als ob der Kanzler im Kampf gegen die AfD das Gegenteil von dem tut, was Sie für richtig halten …
Man kann der Meinung sein, es braucht eine immer höhere Dosierung der Migrationsdebatte. Ich denke eher, dass es eine ganz andere Medikation braucht. Die aktuelle Regierung scheint sich für den ersten Ansatz zu entscheiden. Wenn Sie sich die Umfragezahlen ansehen, kommen Sie zu dem Eindruck, dass diese Strategie erfolgreich ist?
Nein.
Ich auch nicht. Darum fordere ich, endlich die Sorgen der arbeitenden Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen.
Wobei die Regierung der auch einiges zumuten möchte. Zum Beispiel mit einer „wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit“, wie es im Koalitionsvertrag gefordert wird. Die Gewerkschaft NGG warnt, nach einer Abschaffung des Arbeitszeitgesetzes sei nach europäischem Recht in der Spitze eine 73,5-Stunden-Woche möglich.
Nun lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Der europäische Rahmen sieht höchstens 48 Arbeitsstunden im Durchschnitt vor. Wie die NGG auf ihre Zahlen kommt, weiß ich nicht. Klar, bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit steht die CDA nicht an der Spitze der Bewegung. Aber im Koalitionsvertrag wurde ein Kompromiss gefunden, der in der Gesetzgebung natürlich richtig angepackt werden muss. Und etwas mehr Flexibilität ist in Zeiten von Homeoffice sicher richtig und notwendig.
Wobei diese Flexibilisierung von Arbeitgeberseite natürlich ausgenutzt werden kann, Arbeitnehmern überladene Arbeitswochen aufzubürden.
Das zu verhindern, ist dann eine konkrete Herausforderung fürs Gesetzgebungsverfahren. Ich kann versprechen, dass die CDA sich einbringen wird. Beim Thema Arbeitszeiten spielen zum Glück auch die Betriebsräte eine große Rolle. Dieses Recht darf auf keinen Fall eingeschränkt werden.
Die Bundesregierung will das Arbeitsschutzrecht „vereinfachen“ und „modernisieren“. Konkret heißt das zum Beispiel: Die bisherige Pflicht für Firmen mit weniger als 50 Beschäftigten, eine Sicherheitsbeauftragte zu bestellen, wird abgeschafft. 123.000 Sicherheitsbeauftragte würden abgeschafft, die Wirtschaft würde 135 Millionen Euro einsparen. Macht die CDA das mit?
Bürokratieabbau unbedingt. Aber nicht da, wo’s um die Sicherheit der Leute geht. Klar muss man alte Regeln überprüfen, manches passt nicht mehr in die heutige Zeit. Aber einfach Schutzstrukturen streichen, ohne Ersatz? Die CDA sagt: Reformieren mit Augenmaß – aber nicht, indem man Schutz abbaut, wo er gebraucht wird.
Ich bin regelmäßig bei den Industriebetrieben im Ruhrgebiet: Überall brennt die Hütte
Und dann ist da noch die Rente, bei der die Unionsstimmen, die die Rente ab 70 fordern, nicht verstummen. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche fordert außerdem eine Abschaffung der Möglichkeit, schon mit 63 unter Abschlägen in Rente zu gehen. Geht die CDA da mit, oder kommt es zum Aufstand?
Solche Schritte wird es mit der CDA sicher nicht geben. Ein Aufstand ist aber auch nicht nötig. Es gibt schließlich den Koalitionsvertrag, der nicht vorsieht, über die Rente mit 67 hinauszugehen. Dafür steht auch der Kanzler ein. Und im Grundsatzprogramm der CDU steht, das Renteneintrittsalter solle an die Lebenserwartung angepasst werden. Und die ist in Deutschland gerade rückläufig.
Reformen, die die Wirtschaft stärken, tun allerdings Not. In den letzten Monaten häufen sich die Hiobsbotschaften von Unternehmen, die tausende Industriejobs streichen. Sie leben in Bochum-Wattenscheid. Wie nehmen Sie die Lage im Ruhrpott wahr?
Ich bin regelmäßig bei den Industriebetrieben im Ruhrgebiet – im Gespräch mit Betriebsräten und Vorständen. Und ich sag’s klar: Überall brennt die Hütte. Genau da muss die Bundesregierung ran. Diese Unternehmen sind das Rückgrat unserer Wertschöpfung und sichern gut bezahlte Jobs. Wir als CDU müssen alles dafür tun, dass das nicht kaputtgeht.
Wieso gelingt es der Regierung nicht, diesen Trend zu stoppen?
In den letzten Jahren ist einfach ein Hang ins Rutschen gekommen, der sich nicht so schnell wieder einfangen lässt. Sowohl China als auch die USA unter Biden haben mit massiven Staatssubventionen die Wirtschaft gestärkt. Das war wie ein Investitionsstaubsauger raus aus Europa. In den USA sind diese Zeiten vorbei, stattdessen sehen wir eine völlig erratische Zollpolitik, die uns auch schadet. Und derweil wachsen in Berlin und Brüssel die bürokratischen Vorschriften, während der von Scholz versprochene Industriestrompreis nie umgesetzt wurde. Kein Wunder, dass die Industrie ächzt.
Die Ankündigungen, 30 Milliarden beim Bürgergeld einzusparen, waren mindestens tollkühn
Wie können diese Probleme gelöst werden?
Tatsächlich sehe ich im Moment eine riesige Chance für Europa als attraktiven Industriestandort. In den USA herrscht Chaos. Da wurden gerade 300 südkoreanische Hyundai-Mitarbeiter tagelang von der Immigrationsbehörde interniert. Niemand weiß, auf welche verrückten Ideen Trump als Nächstes kommt. Daneben sieht das rechtsstaatliche Europa gerade ziemlich attraktiv aus. Zumindest wenn wir die Bürokratie in den Griff kriegen und Planungssicherheit schaffen.
Große Wirtschaftssubventionen à la China scheinen momentan keine Möglichkeit zu sein. Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) prognostiziert eine Haushaltslücke von 30 Milliarden Euro. Genauso viel, wie die CDU im Wahlkampf beim Bürgergeld einsparen wollte. Tatsächlich erwartet das Arbeitsministerium nächstes Jahr die Einsparung von weniger als drei Prozent der angekündigten Summe. Wie konnte die CDU sich so verschätzen?
Jeder, der sich mit der Thematik beschäftigt, sieht, dass es bei den Einsparmöglichkeiten Grenzen gibt. Einerseits durch das Bundesverfassungsgericht, zum anderen, weil das Volumen des Bürgergeldbetrugs einfach nicht so hoch ist. Insofern waren die Ankündigungen, 30 Milliarden einzusparen, mindestens tollkühn.
Haben Sie gewarnt?
Ja, habe ich.
Und?
Das wurde freundlich zur Kenntnis genommen.
Wir müssen an die Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer ran. Ich werde beim Thema „Verschonungsbedarfsprüfung“ weiter nerven
Derweil bleibt ein anderes Thema, abgesehen von einem Ausrutscher von Jens Spahn, eine auffällige Leerstelle in der Debatte um die Haushaltskonsolidierung: eine mögliche Reform von Vermögens- oder Erbschaftssteuer.
Sie werden von mir jetzt keine Forderung hören, die Vermögenssteuer zurückzuholen. Aber wir müssen sicherlich an die Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer ran. Die „Verschonungsbedarfsprüfung“ führt dazu, dass Erben Milliarden geschenkt bekommen, ohne einen einzigen Cent an Steuern zu zahlen. Das führt zur absurden Situation, dass manche Leute Erbschaftssteuer auf ihr Elternhaus zahlen, während andere komplett steuerfrei eine Immobilienfirma mit tausenden Wohnungen erben. Neben den altbekannten Gerechtigkeitsdebatten im Bürgergeld wünsche ich mir etwas Platz im politischen Diskurs für Debatten an dieser Stelle.
Also fordern Sie einen Klassenkampf nach oben?
Nein, wir brauchen überhaupt keinen Klassenkampf. Aber endlich die richtigen Gerechtigkeitsdebatten.
Und wird sich die CDA mit einer gerechteren Besteuerung der Superreichen durchsetzen?
Mit Prognosen tue ich mir schwer. Aber ich kann versprechen, dass ich beim Thema Verschonungsbedarfsprüfung weiter nerven werde.