Keine Einigung in Sicht: Beim Treffen in Italien diskutiert Christian Lindner mit seinen Amtskollegen, wie eingefrorene Vermögenswerte die Ukraine finanzieren sollen. Eine komplexe Debatte.
Die Wolken hängen tief über dem Lago Maggiore. Aber es regnet nicht, immerhin. Christian Lindner, FDP, an diesem Abend mal ohne Krawatte, gönnt sich einen kurzen Blick über den See, nur einen ganz kurzen. Dann kommt er zur Sache. „Es sieht aus wie Urlaub hier, aber wir haben viel Arbeit zu leisten“, sagt der Vizevizekanzler und nickt mit Nachdruck in die Fernsehkamera.
Soll doch bitte bloß keiner auf die Idee kommen, der deutsche Finanzminister gönne sich vor malerischer Kulisse eine Auszeit vom Haushaltsstreit der Ampel-Koalition. Wo Lindner ist, klar, da wird geleistet. Das Treffen der G7-Finanziminister in Stresa, Norditalien, mag vielleicht nicht ganz so kräftezehrend sein wie die Etat-Verhandlungen mit uneinsichtigen Sozialdemokraten und Grünen daheim, aber ein bisschen Streit gibt es auch hier.
Schon seit Monaten ringen die führenden westlichen Industrienationen darum, wie man mit den eingefrorenen russischen Vermögenswerten umgehen sollte. Wie ließen sich die Gelder sinnvoll einsetzen, um die Ukraine in ihrem Abwehrkampf langfristig zu finanzieren? Es geht um bis zu 300 Milliarden Dollar, die im Westen nach dem russischen Angriffskrieg eingefroren wurden, vor allem in Europa. Und es geht um die Frage, wie weit man gehen kann, ohne einen problematischen Präzedenzfall zu schaffen. Basiert nicht die globale Wirtschaftsordnung auf verlässlichen Vereinbarungen, die niemand mal eben einseitig aufkündigen sollte?
Die Debatte läuft in Christian Lindners Sinne
Am Samstag wollen sich die Finanzminister damit befassen, auch der ukrainische Amtskollege wird erwartet. „Ich erwarte keine Entscheidungen, dafür ist die Materie zu komplex“, sagt Lindner am See. „Viel zu viele Fragen sind offen.“ Es gibt neue Vorschläge von US-Finanzministerin Janet Yellen, über die wolle man sich austauschen. Am Ende wird wohl eine Absichtserklärung stehen, ein Auftrag an die Staats- und Regierungschefs, beim ihrem G7-Gipfel Mitte Juni weiter an einer Lösung zu arbeiten.
Lindner kann entspannt zur Kenntnis nehmen, dass die Debatte in seine Richtung läuft. Ende Februar noch, beim Treffen der G20-Finanzminister in Brasilien, hatten die USA darauf gedrängt, die Vermögenswerte an sich zu beschlagnahmen, um die Ukraine zu unterstützen. Die Bundesregierung und andere europäische Staaten hingegen wollten von Beginn an – wenn überhaupt – nur die Zinsen nutzen, die auf das russische Zentralbankgeld anfallen. Inzwischen gibt es dazu einen entsprechenden Beschluss der Europäischen Union. „Das ist rechtssicher und hilft der Ukraine schnell“, lobt Lindner. Realistisch sind Erträge von etwa drei bis fünf Milliarden Euro, je nachdem wie sich die Zinsen entwickeln. Bis zum Jahr 2027 wird mit Einnahmen von 15 bis 20 Milliarden Euro gerechnet.
Warum nicht gleich die Vermögenswerte selbst beschlagnahmen? Der Finanzminister befürchtet, dass dieses Vorgehen einen Präzedenzfall schaffen würde, der die Staatenimmunität nachhaltig beschädigen könnte. Dieser Grundsatz des Völkerrechts schützt Vermögen von Staaten im Ausland vor Beschlagnahmung. Er regelt aber viel mehr, weil er ganz generell festlegt, dass ein Staat nicht über einen anderen richten darf. Deutschland beruft sich zum Beispiel gerne darauf, wenn es um Reparationsforderungen ehemaliger Kolonien wie Namibia geht.
Was steckt hinter dem US-Vorstoß?
Das offensive Vorpreschen der USA im Frühjahr erklärt sich aus innenpolitischen Gründen. Damals hing ein Ukraine-Hilfspaket von 61 Milliarden Euro im Kongress fest. Es war unklar, ob und wann es gebilligt werden würde. Die Regierung von Präsident Joe Biden stand unter Druck, alternative Finanzierungswege zu finden und zu promoten. Inzwischen ist das Paket beschlossen, das Geld kann fließen, und in Stresa redet nun niemand mehr davon, die Vermögenswerte an sich beschlagnahmen zu wollen. Aber die USA bleiben hartnäckig, nicht nur die Erträge nutzen zu wollen.
US-Finanzministerin Janet Yellen hat ihren neuesten Vorschlag gerade in einem Interview mit der „New York Times“ skizziert. Ihre Idee: Die G7-Staaten gewähren der Ukraine einen Kredit, den sie wiederum mit den Zinsen der eingefrorenen Vermögen absichern. Mit diesem Hebel ließen sich wohl bis 46 Milliarden Euro mobilisieren. Eine Auszahlung soll demnach noch diesen Sommer möglich sein.
Warum der erneute amerikanische Vorstoß? Beobachter werten es als Versuch, die Finanzierung der Ukraine langfristig unabhängiger aufzustellen. Unabhängiger vor allem von den Irrungen und Wirrungen der US-Politik. Schließlich weiß niemand, wie die Präsidentschaftswahlen im November ausgehen. Selbst wenn Biden gegen Donald Trump gewinnen sollte, wäre er künftig weiterhin von Mehrheitsverhältnissen im Kongress abhängig, wo Teile der Republikaner schon das jüngste Paket aufgehalten hatten.
Und was sagt Russland dazu?
Die europäischen G7-Staaten nehmen die amerikanische Hartnäckigkeit in dieser Frage amüsiert bis verwundert zur Kenntnis. Schließlich geht es bei den eingefrorenen Vermögenswerten vor allem um etwa 210 Milliarden Euro der russischen Zentralbank, die beim Brüsseler Finanzinstitut Euroclear liegen. In den USA hingegen liegen umgerechnet nur etwa 4,6 Milliarden Euro. Yellen spricht also vornehmlich vom Geld der anderen. Und wie sieht ihr Plan überhaupt konkret aus?
Dazu ist in Stresa nicht viel zu erfahren. Mehr als die öffentlichen Äußerungen der US-Finanzministerin kennt auch hier niemand. Ein ausgearbeiteter Vorschlag? Liegt offenbar bislang nicht vor. Dabei sind viele Fragen ungeklärt: Was passiert zum Beispiel, wenn der Krieg endet und Russland wieder auf seine Vermögenswerte im Westen zugreifen kann? Wer haftet dann für die noch laufende Kredite an die Ukraine, die einst mit den Erträgen abgesichert waren?
Eher unwahrscheinlich, dass dieses Finanzministertreffen dazu abschließende Antworten liefern wird. „Wir sind zunächst einmal damit zufrieden, was wir schon erreicht haben und was vor einigen Monaten so noch nicht denkbar gewesen wäre“, lobt Lindner.
Russland übrigens bewertet eine Verwendung der Erträge aus seinen eingefrorenen Vermögenswerten als Diebstahl. Es sei ein Verstoß gegen alle Normen des globalen Wirtschaftssystems, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. Man arbeite an einer Antwort auf einen solchen Schritt.
Source: stern.de