Christian Drosten hat sich als Pandemieexperte nicht nur mit Ruhm bekleckert, auch wenn die Selbstwahrnehmung eine ganz andere sein mag. Sein Radio-Podcast war im März 2020 eine fundierte Informationsquelle in unsicheren Zeiten. Doch in den Folgemonaten avancierte der Virologe immer mehr zu einem einseitigen wissenschaftlichen Berater, der fragwürdige Entscheidungen wesentlich mitbestimmte. So plädierte er zunächst gegen das Dichtmachen von Kitas und Schulen, änderte dann aber über Nacht seine Meinung, weil er in einer Fachzeitschrift eine neue Studie über Infektionsgefahren bei Minderjährigen entdeckt hatte. Die Politik folgte den Empfehlungen des (eher unfreiwilligen) Corona-Papstes nahezu blind – mit den bekannten Folgen vor allem für benachteiligte Kinder und Jugendliche, für Gastwirte oder freiberufliche Künstlerinnen.
Zusammen mit Georg Mascolo, einst Chef des Rechercheteams von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung und einer der einflussreichsten Journalisten hierzulande, hat Drosten jetzt eine Bilanz seiner Beratungstätigkeit vorgelegt. Das gerade erschienene Buch Alles überstanden? erhebt den Anspruch, die von den politisch Verantwortlichen bis heute sträflich vernachlässigte, aber längst überfällige Aufarbeitung der damals dekretierten Maßnahmen zu leisten. Waren etwa die Schließung von Parks und Spielplätzen, das Aussprechen von „Verweilverboten“ im öffentlichen Raum oder auch die massiven Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen in der Rückschau wirklich angemessen?
Drosten und Mascolo verfehlen ihr Ziel
Die in Gesprächsform präsentierte, vorgeblich kritische Bilanz liest sich als Selbstrechtfertigung zweiter Autoren, die wie Drosten der wissenschaftlichen und wie Mascolo der medialen Elite angehören. Die präsentierten Dialoge enthalten durchaus interessante, der Öffentlichkeit bisher kaum bekannte Details und Hintergründe. Das Problem ist jedoch, dass die Verfasser viel zu wenig über eigene Fehler und Versäumnisse reden. Immer sind und waren die anderen schuld.
Dazu gehören zum Beispiel jene angeblich unseriösen Forschungskollegen, denen Drosten wie schon während der Pandemie kurzerhand die Kompetenz abspricht. Bei Mascolo, der zusammen mit seiner Frau Katja Gloger bereits 2021 ein Buch über die Corona-Krise veröffentlicht hat, fehlt nahezu jede Kritik an der stromlinienförmig orientierten journalistischen Berichterstattung zum Thema. Ganz ähnlich wie später im Ukraine-Krieg präsentierten sich Talkshows und Leitmedien als mediale Einheitsfront. Gegenpositionen dienten lediglich als Punchingball, um die ganz große Koalition des „Teams Vorsicht“ ständig zu bestätigen.
„Einzigartige Einblicke in eine historische Krise und die Art, wie wir mit ihr umgegangen sind“, mit dieser Verlegerpoesie bewirbt Ullstein das Gemeinschaftswerk von Drosten und Mascolo. Das Versprechen wird bestenfalls zum Teil eingelöst, das Buch verfehlt sein Ziel. Für eine wirklich kritische Nachbereitung wäre die Einbeziehung oppositioneller Stimmen notwendig gewesen. Diese konnten sich lange, in der Wissenschaft wie in den Medien, nur in eher randständigen Publikationen und meist auch nur im Netz zu Wort melden.
An einer solchen Kooperation mit Andersdenkenden hatten und haben offenbar weder Drosten noch Mascolo Interesse. Ein elitärer und zuweilen auch überheblicher Habitus des Besserwissens durchzieht das Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Das ist Wasser auf die Mühlen des Populismus.
Alles überstanden? Ein überfälliges Gespräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird Christian Drosten, Georg Mascolo Ullstein Verlag 2024, 272 Seiten, 24,90 Euro.