Sie schreien, sie pfeifen, sie klatschen: Tausende Bewohner der Stadt Van, ganz im Osten der Türkei, protestieren. Manche strecken Zeige- und Mittelfinger zum Siegeszeichen geformt in die Luft. Ihr Protest, ausschnittsweise zu sehen auf Videos im Netz, ist aber kein Siegeszug. Er richtet sich gegen die Verhaftung des Bürgermeisters von Van. Er gehört der prokurdischen DEM-Partei an und sitzt inzwischen wegen Terrorvorwürfen im Gefängnis. Maskierte Polizisten begleiten die Menschen. Manchmal kommt es zu Kämpfen. Viele Straßen sind abgesperrt.
Wahlsieg, Anklage, Gefängnis: So geht es gerade vielen Bürgermeistern in der Türkei. Im Osten des Landes gehören solche Verfahren seit Jahren zum lokalpolitischen Standard. Seit einigen Wochen werden aber auch Amtsinhaber im Westen abgesetzt. Betroffen ist zum Beispiel Istanbul, das finanzielle Zentrum der Türkei. Dort, wie in vielen anderen Orten, hatte bei den Kommunalwahlen vor knapp einem Jahr die größte Oppositionspartei CHP historische Siege errungen. Sie kontrolliert seitdem Städte und Gemeinden, in denen 62 Prozent der türkischen Bevölkerung leben und die rund 73 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Werden ihre Führungskräfte deswegen reihenweise abgesetzt?
Bürgermeisterschaften sind in der Türkei eine wichtige Geldquelle für Parteipolitik. Wird ein Bürgermeister abgesetzt, tritt an seine Stelle in der Regel ein von Präsident Recep Tayyip Erdoğans Regierung ernannter Statthalter. Der kontrolliert dann auch die Finanzen. So überrascht es nicht, dass mancher Bürgermeister unter dem Vorwurf der Veruntreuung oder Einflussnahme auf öffentliche Ausschreibungen abgeführt wurde. Was die Opposition jahrelang den Vertretern von Erdoğans islamisch-konservativer AKP vorwarf, wirft die Justiz nun der Opposition vor.
Andere Bürgermeister werden wegen angeblicher Verbindungen zur als Terrororganisation gelisteten PKK abgesetzt. Deren Gründer, Abdullah Öcalan, forderte Ende Februar eine Auflösung der Gruppe. Noch gibt es die PKK offiziell. Sollte sich das bald ändern, bedeutet das aber nicht automatisch, dass die Bürgermeister freikommen werden. Es gibt bisher keine Amnestiezusagen der Regierung für PKK-Mitglieder oder ihre Unterstützer. Außerdem halten viele Oppositionspolitiker die Vorgehen für politisch motiviert. Es geht also weniger um echte Terrorverbindungen als darum, so viele Bürgermeister wie möglich ihrer Ämter zu entheben. Mittlerweile wurde ein Gesetz durchgebracht, wonach jeder, der „im Dienst der Öffentlichkeit“ steht, abgesetzt werden darf – auch ohne Gerichtsbeschluss.
Erdoğan gegen die Opposition
Dahinter steckt wohl eine größere Strategie: Die Opposition soll geschwächt und eingeschüchtert werden. Die Wählerschaft soll verstehen: Erdoğans Regierung ist praktisch alternativlos. Wahlen sind zwar erst für 2028 angesetzt und laut Verfassung darf Erdoğan nicht wieder antreten. Für eine Reform der Gesetzeslage fehlen ihm bisher 36 Stimmen im Parlament. Nur im Fall von vorgezogenen Neuwahlen könnte er argumentieren, dass die verfassungsrechtliche Sperre für ihn nicht gilt.
Neuwahlen fordert auch die links-patriotische CHP längst. Angesichts der miesen Wirtschaftslage im Land rechnet sie sich gute Chancen aus. Der Mindestlohn liegt trotz regelmäßiger Anhebungen meist unter der Armutsgrenze, die Firmenpleiten haben sich im Vergleich zu den Vorjahren verdoppelt und die Zahl der Vollstreckungsverfahren gegen Menschen, die ihre Kreditkartenschulden nicht begleichen können, ist im vergangenen Jahr um mehr als 60 Prozent gestiegen.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist unzufrieden mit ihrer Regierung. Laut einer Umfrage von Anfang des Jahres liegt Erdoğan etwa zehn Prozentpunkte hinter dem Kandidaten der Opposition – obwohl der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht feststand. Mittlerweile hat die CHP jemanden ausgewählt, der es mit dem Präsidenten aufnehmen soll: Ekrem İmamoğlu, Oberbürgermeister von Istanbul und Hoffnungssymbol der Opposition. Doch auch gegen ihn laufen Verfahren. Wegen angeblicher Beamtenbeleidigung, Korruption und anderer angeblicher Vergehen drohen ihm ein Politikverbot und Gefängnis. Die Zahl der geforderten Haftjahre steigt fast wöchentlich, weil immer neue Anklagepunkte dazukommen. Aktuell liegt sie bei 23.
Während die Istanbuler Oberstaatsanwaltschaft die Fälle vorbereitet, zieht der Oberbürgermeister gerade durchs Land und hält Veranstaltungen ab, die an Wahlkampf erinnern, auch wenn es den offiziell gar nicht gibt. Im südtürkischen Adana rief er vor ein paar Tagen mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und Schweißperlen im Gesicht an Erdoğan gerichtet: „Wir lassen uns von Ihnen nicht unterkriegen, was auch immer Sie tun, es ist vergeblich.“ Auch andere Oppositionspolitiker versuchen, die Angriffe von außen zu nutzen, um eine Stimmung trotziger Solidarität zu schaffen.
Die Opposition gegen sich selbst
Das könnte vielleicht gelingen, wenn die Opposition, allen voran die CHP, nicht selbst tief gespalten wäre. Zu erkennen war das etwa bei Protesten, die es anfangs noch gegen die Verhaftungen gegeben hatte. Nicht jedes Parteimitglied schloss sich an. Da wäre etwa Burcu Köksal, die erste weibliche Bürgermeisterin von Afyonkarahisar, kurz Afyon, einer 250.000-Einwohner-Stadt im anatolischen Hinterland. An den Protesten beteiligte sie sich nicht, weil auch Mitglieder der DEM-Partei anwesend waren. Mit prokurdischen Interessenvertretern zu kooperieren, ist eine für Nationalisten wie sie eine rote Linie.
Köksal hat noch eine zweite rote Linie: Migranten. Die Bürgermeisterin ist für ihre ausländerfeindlichen Aussagen landesweit bekannt. Viele sagen, dass sie vor allem deswegen gewählt wurde. Drei Wochen nach der Wahl schrieb Köksal in den sozialen Medien: „Wie versprochen, werden wir die Geflüchteten aus unserem schönen Afyonkarahisar vertreiben.“ Seit der Wahl herrscht in der Stadt eine eigene Form von Rassentrennung. Migranten ohne türkischen Pass dürfen zum Beispiel nicht in den Restaurants essen, die von der Kommune subventioniert werden. Dort gibt es warme Mittagessen für umgerechnet zwei Euro: Suppe, Nudeln, Köfte und ein Brötchen.
Für ihre harte Linie gegen Kurden und Geflüchtete wird Köksal aus den höchsten Rängen ihrer Partei kritisiert. İmamoğlu legte ihr im Wahlkampf nahe, aus der CHP auszutreten. Das passt nicht zu seinem Versprechen, ein Politiker für alle zu sein: Alte, Junge, Frauen, Männer, Kurden, Nationalisten, Säkulare und Religiöse. Diese Einheit fehlt der Partei bisher aber. Bürgermeisterin Köksal zum Beispiel ist dem nationalistischen Lager zuzurechnen. An deren Spitze steht der Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş. Früher war er bei der ultranationalistischen MHP. Heute ist er laut Umfragen einer der beliebtesten Politiker des Landes und wird als Präsidentschaftskandidat gehandelt, sollte İmamoğlu verurteilt werden.
Daneben besteht das Lager rund um den früheren Parteivorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu. Er verlor vor zwei Jahren als Präsidentschaftskandidat trotz großer Aufbruchstimmung im Land gegen Erdoğan. Im Hintergrund soll der eher farblose Kılıçdaroğlu schon lange aktiv gegen den charismatischen İmamoğlu arbeiten. Seine Fraktion dürfte sich wohl freuen, wenn eine aktuelle Klage gegen den Parteivorstand Erfolg hat. Der steht größtenteils İmamoğlu nahe und könnte aufgelöst werden – wegen Korruption bei der Vorstandswahl vor eineinhalb Jahren. Ein ehemaliges CHP-Mitglied hatte die Klage eingereicht. Das größte Problem der Oppositionspartei ist damit weder die Regierung noch die Verhaftungswelle. Das größte Problem ist sie selbst.
Dieser Text ist aus einer Kooperation zwischen ZEIT ONLINE und der Reportageschule Reutlingen entstanden. Die Autorinnen und Autoren gehören zum 19. Lehrgang der Schule.