China will dem Wohlfahrtsstaat mehr Geltung verschaffen

Darauf haben Peking-Astrologen lange gewartet. Mehrfach verschoben, gab es nun für die 311 gewählten Mitglieder das dritte Plenum des KP-Zentralkomitees. Seit Deng Xiaoping Ende 1978 bei einer solchen Konferenz die Wende zugunsten seiner Reformen durchsetzte, sind bei Plenartagungen der KP strategische Entscheidungen nie ausgeschlossen. So wurde 2013 kurz nach dem Amtsantritt von Präsident Xi Jinping auf einem Plenum eine „weitreichende große Reform“ angekündigt, die den „gemeinsamen Wohlstand“ als Ziel verkündete, aber bis heute nicht vollständig umgesetzt wurde.

Mittlerweile beruht Chinas internationale Geltung auf seiner Stellung als führende Industrie- und Welthandelsmacht. Ob es gelingt, in absehbarer Zeit auch militärisch mit den USA gleichzuziehen, hängt davon ab, ob das Land seine zum guten Teil hausgemachten Defizite bewältigt. Dabei sind die Wachstumsraten noch das geringste Problem, fallen sie doch deutlich höher aus als die in den USA oder in Europa und passen zum Entwicklungsniveau, das Chinas Volkswirtschaft erreicht hat. Was zur Lösung drängt, ist die Immobilienkrise, deren Folgen sich überall bemerkbar machen. Eine wachsende Jugendarbeitslosigkeit, ein stagnierender privater Konsum, die Finanznot der Provinzen und Städte, das Übersparen der Chinesen hängen damit zusammen. Hinzu kommen unübersehbare regionale Disparitäten zwischen Osten und Westen, Süden und Norden. Die Landflucht, die mit einer rasanten Urbanisierung einhergeht, führt zu Millionen von Arbeitsmigranten.

Das beliebte Allheilmittel, aus der Krise herauszuwachsen, funktioniert immer weniger, weil die Handelskriege mit den USA und nun auch der EU Chinas Exportchancen drosseln. Russland und andere BRICS-Staaten können rudimentäre Absatzmärkte nicht annähernd ersetzen. Über die Folgen gab und gibt es in China eine durchaus offene, zum Teil auch öffentliche Diskussion. Es gab sie im Vorfeld des Juli-Plenums – Mitglieder des ZK, nicht zuletzt Xi Jinping persönlich, haben daran teilgenommen. Manager und Wissenschaftler waren beteiligt, dazu führende Universitäten. Wer die Vorbereitungen zu diesem Plenum verfolgte, der wusste, dass einige elementare Reformen im Gespräch waren.

„Hukou-System“ soll fallen

Aus dem offiziellen Kommuniqué der ZK-Tagung geht nun hervor, dass der private Konsum gestärkt werden soll, ganz im Sinne der bereits beschlossenen Abkehr vom einseitig exportorientierten Wachstum. Die Rede ist vom Auf- und Ausbau des chinesischen Sozialstaats. Bislang bleiben in China Sozialleistungen für die Normal- und Geringverdiener weit hinter europäischen Standards zurück. In den kommenden Jahren nun will die KP neben der Sozialversicherung als Grundsicherung bei steuerfinanzierten Sozialleistungen wie der Arbeitslosenhilfe, der Rentenzahlung und kostenloser Gesundheitsversorgung nachlegen. Um dem eine Basis zu geben, stellte dieses Plenum der 300 getroffenen Entscheidungen, die nicht alle veröffentlicht wurden, umfangreiche industriepolitische Aktionen in Aussicht. Sie sollen einer Hightech-Industrie zugutekommen, um „Made in China“ weltweit als Qualitätssiegel zu etablieren. China soll Weltmarktführer werden beziehungsweise bleiben, besonders in der Solarindustrie.

Darüber hinaus wird es wohl die lange überfällige Finanz- und Steuerreform geben, und zwar schnell. Immerhin hat die Immobilienkrise Provinz- und Lokalregierungen an den Rand des Bankrotts gebracht. Diese Administrationen können Schulden nicht mehr bedienen, da ihnen die wichtige Einnahmequelle – der Verkauf von Grundstücken an Entwickler und Spekulanten – weggebrochen ist. Insofern braucht es viel reformerische Energie, die einen wirklichen Finanzausgleich zugunsten ärmerer und schwächer entwickelter Regionen auf den Weg bringt. Bemerkenswert dabei: Das kann nur zu Lasten der Zentralregierung gehen und wird die Autonomie der Provinzen und Regionen stärken.

Darüber hinaus soll das veraltete „Hukou-System“ fallen, das als Mobilitätsbremse erster Klasse wirkt und Chinas Binnenmarkt fragmentiert. Bisher gilt: Wer ohne triftige Gründe in eine andere Stadt beziehungsweise Provinz zieht, wird dort nicht als Einwohner registriert und erhält damit keinen Zugang zu Kindergärten, Schulen, Altersheimen und Hospitälern. Spät, aber nicht zu spät hat die KP erkannt, dass sich den Wanderarbeitern nicht helfen lässt und Jugendarbeitslosigkeit nicht zu drosseln ist, ohne dieses völlig obsolete Kontrollsystem abzuschaffen.

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