Bestellt und nicht abgeholt. Wir stehen an einer vierspurigen Autostraße im modernen Pekinger Technologiegebiet Yizhuang und stampfen im sonnigen Morgenlicht die Kälte in den Asphalt. Aufgeregt warten wir auf die bestellten Robo-Taxis. „Da kommt es“, ruft eine Mitreisende, man erkennt die Fahrzeuge an den technischen Aufbauten sofort. Aber nein, es hält nicht, sondern zieht wie schon andere an uns vorbei. Erste sarkastische Kommentare machen die Runde. Es dauert noch, bis unsere chinesischen Reisebegleiter einen anderen Anbieter beauftragen. Wir kapern das zweite.
Es ist ein unheimliches Gefühl, besonders für Autofahrer, die ja immer „mitfahren“. Bis vor Kurzem überwachte auf dem Beifahrersitz noch ein Testfahrer die Fahrt, aber ein neues Reglement erlaubt nun nicht nur autonome Taxis auf den Testgebieten, sondern auch innerhalb gewisser Zeitzonen auf den Ringstraßen und am Pekinger Südbahnhof.
Die mit Plastik geschützte Navigationszentrale ist leer, der Roboter steuert sich selbst, überwacht von Sensoren und Kameratechnik, auf Chinas Straßen ohnehin allgegenwärtig. Aber wie soll man eingreifen, wenn es ein Problem gibt? Die erste Herausforderung, die unsere Dreiergruppe übersteht, ist einer der massenhaft vorhandenen, völlig unberechenbaren Motorroller auf Pekings Straßen.
Wir halten den Atem an, doch das Fahrzeug erweist sich als geschickt, wie mich überhaupt die elegante Art, Spuren zu wechseln, neidisch macht: keine Genickstarre mehr beim Blick nach hinten. Es kommt noch einmal zu einer vermeintlich brenzligen Situation, die das Taxi souverän meistert. Nach zwei Kilometern sind wir am Ziel. Geschafft!
Kein Smog mehr in Peking
Inzwischen erobern Robo-Taxis die großen Städte Chinas, Wuhan war der Vorreiter. Die drei großen Player sind Baidu, die chinesische Suchmaschine, die mit Apollo Go eine große Robo-Taxi-Flotte unterhält, Pony.ai und We Ride. Eine 30-minütige Fahrt kostet unter fünf Euro, viel günstiger als eine Fahrt mit Fahrer. Bezahlt wird im Voraus über die App, als Europäer nutzen wir überall, selbst beim fliegenden Gemüsehändler, Alipay, ein mobiles, sehr bequemes Bezahlsystem, denn das „Volksgeld“, Renminbi, abgekürzt RMB, ist nur noch wenig in Umlauf. Selten ergattert man eine Yuan-Münze, auch Mao genannt, oder gar einen Fen.
Robot-Fahrzeuge sind im chinesischen Straßenverkehr noch die Ausnahme. Auffallend sind die vielen grünen Nummernschilder für E-Autos, ungleich verbreiteter als bei uns. In vielen Städten fahren auch die Busse ausschließlich mit Strom. Wer in Peking mit blauem Nummernschild, einem Benziner, unterwegs ist, muss nicht nur viel Geld zahlen – bis zu umgerechnet 10.000 Euro kostet eine Zulassung, die über das Fernsehen versteigert wird –, sondern seinen Wagen, je nach Nummer, an bestimmten Tagen stehen lassen. Der Luft in der Hauptstadt kommt diese rigorose Maßnahme zupass, kein Smog mehr, der Geräuschpegel heruntergedimmt.
Erschüttert wird unser von Massenradlern geprägtes China-Bild allerdings durch die Mopeds. Sie rollen, um diese Jahreszeit mit bunten, gefütterten „Schürzen“, die vor der Kälte schützen, in unendlichen Kolonnen dicht nebeneinander auf den breit angelegten Zweiradwegen, gern auch auf Fußwegen, mit einem Kleinkind im Gepäck. Zebrastreifen oder rote Ampeln werden dreist ignoriert, denn im Gegensatz zu Autos laufen Zweiräder unterm Radar. Ganz verschwunden sind Fahrräder freilich nicht. Blau und gelb säumen sie die Schneisen zum Fahrdamm. Händisch betriebene Gitter an den großen Kreuzungen setzen die Zweiradmeute in Bewegung.
Reibungslose Verkehrsströme, das merken wir schon am ersten Tag noch ohne unsere Reisegruppe in Peking, sind für ein 1,4-Milliarden-Volk die Voraussetzung für das Funktionieren der Gesellschaft. Das Metro-System ist mit 29 Linien und weit über 800 Kilometern Streckennetz zwar kaum vergleichbar mit der Berliner U- und S-Bahn und das Tunnelsystem eine Tortur, vor allem mit dem, was Chinesen an den Füßen haben: schlechtes Schuhwerk. Das Erste, was mir auffällt.
Überrascht werden wir von den obligatorischen Gepäck- und Passkontrollen an jedem U-Bahn-Eingang. Und ohne Ticket geht nichts, Schwarzfahren ist in China schlicht unmöglich. Auf den Bahnsteigen bilden sich vor den gekennzeichneten Zugzugängen ordentliche Schlangen. Wir wollen auf den Tian’anmen-Platz, die neue U7 schaffen wir noch, obwohl die Wagen schon hier brechend voll sind. An der U2 hilft selbst das „Stopfen“ der Mitarbeiterin nichts, die Bahn fährt ohne uns. Auch bei der zweiten haben wir kein Glück. Irgendwann geben wir auf, beim Ausgang verschluckt der Automat unsere recycelbare Fahrkarte, diesmal keine Kontrolle. In China ohne Identitätspapiere unterwegs zu sein, kann zum Problem werden, denn kontrolliert wird seit Corona auch in Museen oder vor Sehenswürdigkeiten (wie am Tian’anmen-Platz, wo man, wie wir später erfahren, stundenlang warten muss).
Und manchmal sogar beim Zutritt zum Park, wie es uns später in Guilin passiert. Die allgegenwärtigen Kontrollen werden uns auf der Reise begleiten, sie sind – keine Frage – extrem gewöhnungsbedürftig. Auf dem Pekinger Flughafen, wo man noch vor der Einreise seine Fingerabdrücke abgeben muss, habe ich frühmorgens fast einen Anfall gekriegt.
Ausnahmslos pünktliche Schnellzüge
Symbol für die dramatische Mobilitätswende, die China in den vergangenen drei Jahrzehnten hingelegt hat, ist das Schnellbahnsystem der Eisenbahn. Mit über 48.000 Kilometern verfügt das Land über die längsten Schnellzugtrassen weltweit, mit denen die großen Städte – und das sind nur die mit mehr als fünf Millionen Einwohnern – verbunden sind. Konkurrierten zu Beginn der Ausbauphase noch japanische und europäische Schienenfahrzeugbauer um das große Geschäft, produzieren die Chinesen ihre Hochgeschwindigkeitszüge – wie ihre Autos – mittlerweile selbst, meist noch mit Komponenten, die in Lizenz nachgebaut werden. Unter anderem auch in Zhenzhou, der nächsten Station unserer Reise.
Zuvor am Pekinger Westbahnhof das übliche Sicherheitsprozedere, Gepäck- und Ausweiskontrolle. Mit einer Gruppe von 20 Menschen würde das in Deutschland sofort zum Stau führen, hier läuft es wie geschmiert, dank hoher personeller Präsenz. Bahnhöfe und Züge sind, wie übrigens auch die Straßen, penibel sauber, inmitten des Pekinger Verkehrs beobachten wir eine Straßenkehrerin, die seelenruhig ihren Besen schwingt. Dann wieder das disziplinierte Anstehen, beim Zugang zum Bahnhof und zum Bahnsteig. Der Einstieg zu den Waggons mit den reservierten Plätzen ist genau markiert. Und wir machen zum ersten Mal die beglückende Erfahrung, dass ein Zug, der um neun Uhr eintreffen soll, Punkt neun im Bahnhof einrollt und ihn genau drei Minuten später verlässt. Unglaublich!
Viele Menschen und Koffer in so kurzer Aufenthaltszeit in den Waggon zu bugsieren, ist für Hao Lei, unseren geduldigen Reisebegleiter und Dolmetscher, allerdings eine echte Herausforderung. Es klappt dennoch jedes Mal, wenn wir die ausnahmslos pünktlichen Schnellzüge nutzen. Mit 350 Stundenkilometern brausen wir dem 700 Kilometer entfernten Zhenzhou, der Hauptstadt der bevölkerungsreichen Provinz Henan, entgegen – Shanghai wäre in nur viereinhalb Stunden erreichbar. Die Züge sind mit fünf Plätzen pro Reihe ausgestattet, ein Sitzplatz ist garantiert. Die angekündigte grandiose Zugverpflegung fällt indes aus. Der Zug führt keinen Speisewagen.
Zhenzhou ist nicht nur wegen seiner Automobilproduktion mit 2,6 Millionen Fahrzeugen pro Jahr und E-Bussen, die überall auf der Welt kursieren, eine Topadresse. In Zhenzhou liegt auch einer der vier Ausgangsbahnhöfe der Neuen Seidenstraße. Wieder frappiert das Grün, die Straßen sind gesäumt von Gingko-Bäumen, an jeder Ecke ein Park. In der „grünen Stadt“ Bengbu werden wir später eine besondere Form des chinesischen Umweltkonzepts kennenlernen. Irritierend ist wie schon in Peking die Abwesenheit deutscher Automarken. Man sieht zwar gelegentlich elegante Limousinen mit BMW-Plakette oder Daimler-Stern, aber sie prägen das Straßenbild nicht, auch die einst mit Volkswagen betriebene Taxiflotte ist verschwunden. Es dominieren E-Autos von BYD und anderen chinesischen Herstellern.
Statussymbol Auto
In Changzhou werden wir später den Autobauer Li besuchen, der riesige Familienkutschen mit Hybrid- und E-Antrieb produziert. Das Unternehmen Wuling dagegen fertigt kleine Wagen, denn je ländlicher die Gegend, desto kleiner die Autos. Bei Li läuft die Produktion vollautomatisch, beim Gang durch die Teststraße begegnen uns nur wenige Arbeiter. Das gehört zu den vielen unauflösbaren Paradoxien: Forcierte Robotertechnik auf der einen Seite und Massen von Menschen, die irgendwie beschäftigt werden müssen, auf der anderen. Verstopfte Straßen und der unbändige Wunsch nach immer größeren Autos, das Statussymbol in China.
Zurück nach Zhenzhou: Man muss sich von der farbenprächtigen Präsentation – alte trifft neue Seidenstraße, und, ja, Henan ist tatsächlich die Wiege der chinesischen Zivilisation –, die wir im Präsentationszentrum an der Start Railway Station der Belt and Road Initiative (BRI) in Zhenzhou erleben, nicht überwältigen lassen, das ist multimediale Propaganda. Auch die lustige Animationstour, die im Zeitraffer von Zhenzhou bis nach München führt, dem Endpunkt des Projekts, hat etwas von Jahrmarkt.
Doch ein paar Zahlen verdeutlichen, was mit der BRI passiert, die den Osten Chinas mit Eurasien, aber auch mit den großen Häfen in Südchina verbindet: 2024 verzeichnete die Stadt einen Import/Export-Zuwachs von 25 Prozent. 3.600 Züge waren via Westen unterwegs mit je 55 Waggons – 2025 sollen es 4.000 gewesen sein. Zeitvorteil: 30 Prozent. Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs dauert die Passage drei Tage länger, da Transitstrecken nicht genutzt werden können. Wenn man schon in den Dimensionen von Wachstum denkt – hier ist das greifbar.
Uns schwirrt der Kopf. Die unendlichen Reihen der Wolkenkratzer – 32 Stockwerke hoch, die an amerikanische Großstädte erinnernden Hochstraßen, die nicht endenden Menschenströme, der Wechsel zwischen weiten, oft tristen Ebenen und hochschießenden Stadtlandschaften, der ständige Wechsel verwirrt. In der Nähe von Guangzhou (Kanton) begegnet uns noch einmal ein Fahrroboter, diesmal in der Luft. Das Start-up Ehang ist das erste Unternehmen weltweit, das eine Lizenz für Flugroboter (AVV) hält. Die unbemannten Flugzeuge sind vor allem für den Einsatz in Städten und geringer Höhe gedacht, und die Vorführung lässt erahnen, was das für den Luftraum und die Ohren bedeuten könnte. Ob sie daran arbeiten würden, den Lärm zu dämpfen, frage ich Ehan-Guide Peter. Ja, sagt er, aber so ganz versteht er mein Problem wohl nicht, denn China ist laut.
Überzeugend finde ich das Luftgefährt für die Feuerwehr, mit dem man Brände aus großen Höhen bekämpfen könnte. Eine Woche nach unserer Rückkehr sehe ich die Bilder von den brennenden Hochhäusern in Hongkong, gar nicht weit von Guangzhou. Und die hilflosen, erschöpften Feuerwehrleute.
Ulrike Baureithel hat im November an einer mehrwöchigen, privat organisierten Informationsreise durch die Volksrepublik China teilgenommen