Chemie | Elixier der Weltwirtschaft: Hohe Gaspreise führen zu Knappheit bei Harnstoff und AdBlue

Der Ukrainekrieg führt zu hohen Gaspreisen. Hohe Gaspreise zu Knappheit von Grundstoffen unserer Wirtschaft: Dünger und AdBlue. Jetzt zeigt sich unsere Abhängigkeit

In einer Welt, in der zwar nicht alles, aber vieles mit vielem zusammenhängt, können kleine Dinge einen gehörigen Schluckauf provozieren. Und damit: Willkommen zu einer kurzen Reise durch die Welt der Chemiewirtschaft. Die ist bunt, aber wir bleiben bei einer unscheinbaren organischen Verbindung, die auf der Liste der weltweit meisthergestellten Chemikalien ganz oben steht: Harnstoff, bekannt als Kohlensäurediamid, Summenformel CH₄N₂O.

Heute werden jährlich etwa 200 Millionen Tonnen Harnstoff hergestellt, er sorgt für gewaltige Umsätze, sagt trotzdem vergleichsweise wenigen Menschen etwas. Dabei ist Harnstoff ein Gleitmittel der Weltwirtschaft. Also auch ein Machtmittel.

Harnstoff entsteht unter hohem Druck durch Umsetzung von CO₂ mit Ammoniak. Er ist das pflegeleichte Kind der Ammoniaksynthese, ungiftig, wasserlöslich, leicht zu transportieren. Unter anderem auch als Exportgut aus Russland, aber dazu später mehr.

Seine wesentliche Qualifikation ist: Er enthält sehr viel Stickstoff. Deshalb kann man daraus festen oder flüssigen Dünger herstellen, die Kosmetikindustrie braucht ihn, an Flughäfen wird er als Streusalzersatz verwendet. Außerdem kann Harnstoff Stickoxide in Kraftwerken und Verbrennungsmotoren reduzieren. Aus ihm wird Adblue produziert – und jetzt wissen alle Lastkraftfahrer*innen, Traktorist*innen, oder Dieselchauffeur*innen, worüber wir hier sprechen: Ach das, was ich da in den kleinen Tank mit dem blauen Deckel schütte. Adblue besteht zu einem Drittel aus Harnstoff.

In Deutschland stellen drei große Unternehmen Harnstoff her: Der norwegische Yara-Konzern hat Anlagen in Brunsbüttel, außerdem in Frankreich und den Niederlanden. BASF produziert in Ludwigshafen für ganz Europa. Und es gibt die SKW Stickstoffwerke Piesteritz in Lutherstadt Wittenberg. Rund 40 Prozent des deutschen Marktes für Adblue kommen von den SKW Piesteritz.

Noch zwei Details aus der chemischen Produktion, die die Brisanz all dessen anzeigen: Für Harnstoff braucht es erhebliche Mengen an Erdgas. Nicht als Energiequelle, sondern als Methan. Chemiker sagen dazu, dass es „stofflich“ verwendet wird. Deshalb kann man Erdgas hier nicht einfach ersetzen. Bis zum vorletzten Frühjahr machte der Erdgaspreis etwa 80 Prozent der variablen Kosten bei der Produktion aus. Das waren die Zeiten vor dem Sommer 2021, als Gas plötzlich 30 Euro pro Megawattstunde kostete. Also das Dreifache. Und dann noch teurer und immer teurer wurde.

Außerdem muss man die Produktionsanlagen bei einer Kapazität von etwa 80 Prozent laufen lassen. Darunter wird das System instabil. Kann man sich so vorstellen: Man startet einen Motor und der läuft gleich auf 80 Prozent seiner möglichen Umdrehungszahl. Von da an kann man beschleunigen. Weniger aber darf es aber nicht werden. Als der Gaspreis im Sommer 2021 stieg, gaben Produzenten größere Teile der gestiegenen Kosten an die Verbraucher weiter. Der Düngemittelabsatz knickte ein, erste Warnungen erschienen in der Fachpresse. Der Gaspreis stieg weiter.

Dünger, Kosmetika, Adblue

Und damit wechseln wir von der chemischen Industrie zur wirtschaftspolitischen Dimension: Der wichtigste Exporteur von Harnstoff ist Russland. Im vorvergangenen Jahr waren das 15,41 Prozent aller weltweiten Exporte. Auf der Liste der größten Exporteure rangieren auf den nächsten Plätzen China, Katar, Saudi-Arabien und Algerien. Zusammen mit Russland produzieren sie 53,71 Prozent des weltweiten Exportvolumens. Russland ist auch der größte Düngemittelexporteur der Welt, The Fertilizer Institut hat Anfang dieses Jahres ausgerechnet, dass russische Unternehmen 23 Prozent der weltweiten Ammoniumnitrat-Exporte produzieren, Russland exportiert außerdem 21 Prozent des Kali- und zehn Prozent des Phosphatdüngers.

Im Dezember 2021 beschränkte Russland seine Exporte. Verbot im Frühjahr die Ausfuhr von Ammoniumnitrat, dem weltweit populärsten Stickstoffdünger. Auch China stoppte den Export von Phosphatdünger. Landwirt*innen in Brasilien kratzten sich am Kopf, sie hatten gerade die zweite Maisernte des Jahres gesät – eine Kultur, die sehr viel Stickstoffdünger benötigt. Brasilien ist der weltweit größte Importeur von Phosphatdünger. Auch in Europa – ein großer Abnehmer von russischen Düngemitteln – machten sich Bäuerinnen und Bauern Sorgen über die gestiegenen Preise. Ein paar mehr hat seitdem die chemische Industrie: Die eigenen Düngemittel wurden plötzlich zu teuer für den Markt, der gleichzeitig immer leerer wurde. Im vergangenen Juni lag der Verkaufspreis von Dünger der SKW Priesteritz 139 Prozent höher als vor der Gaspreiskrise.

Krieg killt Rendite

Dieselzusatz Ende August stellten die Stickstoffwerke SKW Piesteritz in Lutherstadt Wittenberg, einer von drei Adblueherstellern in Deutschland, die Produktion von Ammoniak und Harnstoff vorübergehend ein. Der hohe Gaspreis und die angekündigte Gasumlage würden die Ammoniaksynthese unrentabel machen, hieß es. Mitte September begann das Werk eine von zwei Anlagen wieder hochzufahren, das braucht 14 Tage und kostet „ein paar Millionen Euro“. Mit der Produktion warte man aber noch auf ein „Signal der Politik“. Der norwegische Düngemittelproduzent Yara hat wegen der hohen Gaspreise die Produktion ebenfalls teilweise eingestellt. Polens größter Düngerhersteller, die Grupa Azoty, hat die Düngemittelproduktion gedrosselt; der britische CF Fertilizers stellt die Ammoniakproduktion vorübergehend ein.

Unternehmen in Deutschland überlegten also, ob sie ihre Ammoniakanlagen laufen lassen sollten, denn die Produktionspreise steigen sprunghaft. Ende des Sommers dann lag der Gaspreis beim Einhundertfachen des Sommers davor – wenn man den Januar 2015 als Ausgang nimmt, war er um 839 Prozent gestiegen. Zwar verkauften die SKW Piesteritz weiter genug Adblue, aber alle Alarmglocken rasselten: Mit der Preissteigerung für Gas und der Gasumlage würde das Werk Verluste von etwa 100 Millionen Euro im Monat einfahren. Der Betrieb hat rund 800 Mitarbeiter, weit über eine halbe Milliarde Euro Umsatz – und all seinen Harnstoff können sie nicht zu Adblue verarbeiten. Im Spätsommer schaltete SKW mehrere Anlagen ab und stellte keinen Dieselreiniger mehr her.

In Deutschland verbrauchen wir etwa 7,5 Millionen Liter Adblue. Am Tag. Landwirte reinigen die Abgase ihrer Traktoren; Pendler wollen mit ihrem Diesel aus kleinen Orten auf dem Land zur Arbeit. Lastwagen liefern Lebensmittel und unsere Internet-Bestellungen. Dann gibt es noch Stadtbusse aus der vorelektrischen Zeit. Im schlimmsten Fall müssten ohne Adblue Fahrzeuge stillgelegt werden. Oder Wirtschaftspolitik würde weiter gegen Klimapolitik in Stellung gebracht. Aus den ersten Warnungen wuchs im Spätsommer ein ziemliches Geschrei.

Und da ist noch der russische Harnstoff: steht auf keiner Sanktionsliste, wird weiter in die EU eingeführt. Von russischen Produzenten oder solchen, die zwar in der Schweiz registriert sind, aber von russischen Oligarchen geleitet werden. In Russland bekommen sie Erdgas gratis oder zu Spottpreisen, verwenden es als Energie bei der Produktion oder eben stofflich. Die bunte Welt der chemischen Industrie in Europa hat also ein kräftiges Problem: Die organische Verbindung von Politik und Wirtschaft in Ländern wie Russland, China, Katar oder Saudi-Arabien. Die hält mit CH₄N₂O einen ziemlich großen Stock in der Hand. Günstig produziert, verkaufen sie ihn in Europa etwa zur Hälfte der Produktionspreise von SKW, machen guten Gewinn und drängen die Konkurrenz aus dem Markt. Der Stock prügelt also längst auf europäische Unternehmen.

Es ist Zeit für ein Telefonat, der CDU-Landeschef Sven Schulze aus Quedlinburg ist Minister für Wirtschaft und Landwirtschaft in Sachsen-Anhalt. Er zieht eine Linie vom russischen Krieg in der Ukraine zur Strategie der Wirtschaft. Dort ficht Russland militärisch, hier setzt es Gas als Waffe ein: „Wir beobachten, dass Russland mit wirtschaftlichen Mitteln unseren Lebensstandard in Mitteleuropa angreift.“

Sven Schulze hebt weder die Stimme noch klingt er alarmistisch. Keine seiner Formulierungen drängt ins Populistische. Aber er sieht, dass die politische Führung Russlands mit großen Oligopolen darauf abzielt, massive Instabilität in Europa zu provozieren. Kurzsichtige Reaktionen gibt es schon: Manch einer glaubt, man müsse nur Nordstream 2 „aufmachen“, eine mythische Mischung aus Gas und Frieden flösse dann automatisch, die Welt wäre wieder intakt. Konkreter sind die Probleme der Industrielandwirtschaft: Im Frühjahr forderte der Bauernverband die Reduktion der Dumpingsteuer, die die EU auf russischen Dünger verhängt hatte. Warnte vor Ernteeinbußen von 40 Prozent, also erheblich teureren Lebensmitteln. Heikles Thema: Soll der russische Harnstoff auf die Sanktionsliste? Schulze will dazu nichts sagen.

Aber er klingt sachlich, selbst wenn er auf Robert Habecks Mühen schaut (Beleg für die Polemikferne des Gesprächs – keinmal fällt der Name des russischen Präsidenten oder der von Sahra Wagenknecht): Flüssiggas zu importieren sei nicht verkehrt. Helfe aber bei der Produktion von Adblue und Düngemitteln nicht, weil die Erdgaspreise bei kurzfristigen Lieferverträgen hoch seien. Zu hoch, um damit Produkte herzustellen, die am Markt bestehen könnten. Das nächste Problem sei dann eben die Gasumlage. SKW würde die im Monat etwa 30 Millionen Euro kosten.

Und dann leitet Sven Schulze einen Abschnitt der Unterhaltung mit einem kleinen Seufzer ein. Er will einen großen Wurf: „Wir brauchen einen Energiepreisdeckel.“ Kurze Überraschung, ist das CDU-Position? Verstaatlichung, Marktregulation, Nachtragshaushalt, weg mit der schwarzen Null? Nun, sagt Schulze, man müsse jetzt fragen, was das Sinnvollste sei. Einen Wirtschaftszweig erhalten oder die Produktion aufgeben. Würde bedeuten, sich abhängig zu machen. Und wenn bald viele Privatkunden ihre Rechnungen bei den Stadtwerken nicht mehr zahlen könnten, müssten die auch wieder gestützt werden. Also: Lieber den großen Wurf.

Dazu gebe es Kleingedrucktes, Unternehmen und Haushalte bekämen subventionierte Kontingente, wer mehr verbraucht, zahlt hohe Weltmarktpreise – aber ohne einen kräftigen Eingriff sieht er schwarz. Schulze wiederholt einen Satz, will, dass der sehr klar wird: „Es geht nicht darum, Gewinne zu sichern, sondern um das Überleben der Industrie.“ Selbstverständlich müsse man schauen, woher man sonst Gas beziehen könne. Auch, wo man es einsparen kann. Das hält er für mehrheitsfähig in der CDU.

Sven Schulze fasst alles noch einmal zusammen, wir seien in einer so komplizierten und bedrohlichen Situation, wie er sie noch nie erlebt habe. Und findet noch einen schönen Satz, der sich der FDP zuwenden kann oder der eigenen Fraktion im Bundestag: „Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für parteipolitisches Geplänkel.“

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