Carsten Linnemann: „Wir sollen offensichtlich mehr denn 30 Prozent bekommen“

Carsten Linnemann: „Wir sollen offensichtlich mehr denn 30 Prozent bekommen“

Herr Linnemann, für viele Wähler ist die Wirtschaftslage das wichtigste Thema. Trotzdem redet die CDU seit drei Wochen nur noch über Mi­gration. Ist das ein Fehler?

Wäre es nach uns gegangen, hätten wir das Migrationsthema aus dem Wahlkampf herausgehalten. Vorigen Sommer, nach dem Attentat in Solingen, hätte ein parteiübergreifender Befreiungsschlag gelingen können. SPD und Grüne haben sich dem verweigert. Und Ende Januar hat die SPD allein aus wahltaktischen Überlegungen unserem Gesetzentwurf zur Begrenzung der Zuwanderung nicht zugestimmt. Wenn eine dieser Chancen genutzt worden wäre, würden wir jetzt mehr über Wirtschaft sprechen.

Da gibt es unterschiedliche Ansichten, an wem das lag.

Ereignisse wie den Messerangriff in Aschaffenburg oder jetzt den Anschlag in München können Sie nicht einfach wegwischen und zur Tagesordnung übergehen.

Können Sie sich ein Ereignis vorstellen, das die Wirtschaft wieder in den Mittelpunkt rückt?

Der Mittelstand stirbt leise, wir haben alle drei Minuten eine Insolvenz. Die einzelne scheint keine Schlagzeile wert zu sein, aber in der Summe ist diese Entwicklung dramatisch. So ist es auch mit der Arbeitslosigkeit. Es wird eine intensivere Debatte geben, wenn die Zahl auf über drei Millionen steigt.

In Umfragen sagen die Leute, der Wirtschaft geht es schlecht, aber ihnen persönlich geht es gut.

Wir haben derzeit einen Arbeitnehmermarkt. Gute Leute werden von den Unternehmen aufgesaugt wie Wasser von einem Schwamm. Aber das droht zu kippen. Den Unternehmen fehlt es vor allem an Planungssicherheit. Das führt zu weniger Investitionen und zu Abwanderungen. Das kommt immer mehr bei den Arbeitsplätzen an.

Sie zielen in Ihrem Wahlprogramm stark auf Arbeitsanreize. Sind in Deutschland zu viele Leute zu faul?

Nein. Wir haben viele Leistungsträger in Deutschland, die aber feststellen: Wenn ich weniger Leistung bringe, kriege ich fast das gleiche Geld. Wir wollen, dass sich mehr Leistung wieder lohnt, und wollen deswegen durch unsere Steuerreform insbesondere die arbeitende Mitte entlasten. Wir müssen einerseits Mehrarbeit honorieren und andererseits im Sozialsystem klarstellen: Jeder, der arbeiten kann, muss auch arbeiten. Sonst gibt es keine Sozialleistungen. Das wird einen Mentalitätswandel auslösen, der bitter nötig ist: Im vergangenen Jahr hatten wir über 250.000 Wegzüge aus Deutschland, davon knapp 60 Prozent Akademiker. Und zu wenige Fachkräfte kommen aus dem Ausland zu uns.

Deutschland macht derzeit auch keinen migrationsfreundlichen Eindruck.

Ja, weil die Standortbedingungen nicht gut sind. Zu hohe Steuern, zu viel Bürokratie und Regulierung. Daher wollen wir beispielsweise eine digitale Agentur für Fachkräfteeinwanderung einrichten, in der alles gebündelt wird. Angefangen bei der Arbeitsplatzvermittlung bis hin zur Visavergabe und Erteilung eines Aufenthaltstitels. Aber wir sind genauso klar, wenn es um illegale Migration geht. Die müssen wir stoppen. Und wir müssen hart sein gegenüber Straftätern, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, weil wir eben eine generelle Stimmung gegen Ausländer nicht haben wollen. Wir müssen konsequent sein gegenüber der Minderheit, die sich nicht an die Regeln hält, damit die Mehrheit der Menschen mit ausländischen Wurzeln, die dieses Land am Laufen halten, nicht unter Generalverdacht gestellt wird.

Wir haben auch einen großen Bedarf an gering qualifizierten Arbeitskräften. Könnten wir das Land ohne irreguläre Migration am Laufen halten?

Illegale Migration ist ein Problem, nicht Teil der Lösung. Aber: Wir müssen den Unternehmen mehr Freiräume geben, sich selbst nach Arbeitskräften im Wege der legalen Zuwanderung umzuschauen. Sie können das besser als der Staat. Das Bäckerhandwerk hat zum Beispiel im vergangenen Jahr mehr als 2000 Vietnamesen nach Deutschland angeworben.

Wenn Sie sagen, die Leute müssen mehr arbeiten: Ist der Arbeitskräftemangel zurzeit das zentrale Problem?

Das zentrale Problem ist: Die Ampelregierung hatte keinen wirtschaftlichen Plan für Deutschlands Zukunft. Was Gerhard Schröder in Klein gemacht hat, für den Arbeitsmarkt, brauchen wir jetzt in Groß. Der neue Bundeskanzler, hoffentlich Friedrich Merz, wird wie Schröder dem Land sagen müssen: Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung.

Besonders viele Zumutungen haben wir in Ihrem Wahlprogramm allerdings nicht gefunden.

Es geht nicht um Zumutungen, es geht um Zutrauen: Wir setzen in unserem Wahlprogramm Arbeitsanreize. Das gilt für den Zuverdienst in der Rente, für steuerfreie Überstundenzuschläge, auch für unsere Steuerreform. Dazu kommt das Bürgergeld. Da reden wir nicht bloß über Sanktionen, sondern darüber, das Geld komplett zu streichen. Wenn jemand partout keine Arbeit annehmen will, muss der Staat davon ausgehen, dass er nicht bedürftig ist. Punkt.

Steht Ihnen da nicht das Verfassungsgericht im Weg?

Solche Vorschläge mache ich nicht, ohne mich gründlich informiert zu haben. Der frühere Präsident des Bundessozialgerichts sagt zum Beispiel: Das geht.

Die Steuersenkungen, die Sie planen, kosten den Staat viel Geld. Das sagen Ökonomen ganz unterschiedlicher Couleur. Wer soll das bezahlen?

Wir machen das nicht auf einmal. Die Unternehmenssteuern wollen wir jedes Jahr um einen Prozentpunkt senken. Und bei der Einkommensteuer geht es um die Frage, ab welchem Jahreseinkommen der Spitzensteuersatz greift. Im Moment schon bei rund 67.000 Euro, ich könnte mir 80.000 Euro vorstellen. Dann steigt auch die Progressionskurve langsamer an, und die Steuertarife unterhalb dieser Grenzen sinken ebenfalls. So entlasten wir kleine und mittlere Einkommen und den Mittelstand als Ganzes.

Die Unternehmenssteuern zu senken, bringt nicht unbedingt mehr Investitionen. Andere sagen: Zuschüsse bringen mehr.

Diese Förderprogramme sind doch aus der Zeit gefallen! Die Unternehmen brauchen mehr Freiräume. Wir gehören weltweit zur Spitze bei Einkommensteuer, Unternehmenssteuern, Sozialbeiträgen, Energiepreisen. Sollen diese Kosten weiter steigen, und im Gegenzug schüttet der Staat Subventionen aus? Das ist nicht unser Ansatz.

Wenn Sie sagen, Ihre Steuersenkungen finanzieren sich durch Wachstum: Machen Sie die einzelnen Schritte dann von der Konjunktur abhängig?

Nein. Wir setzen andere Prioritäten als die Ampelregierung. Wir werden erstens die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands herstellen, zweitens die unteren und mittleren Einkommen sowie die Unternehmen entlasten – und drittens Innovation fördern. Zudem wollen wir Digitalisierung und Bürokratierückbau einen Schub geben, wie wir ihn seit Jahrzehnten nicht erlebt haben.

Und woher kommt das Geld für die Bundeswehr, wenn 2028 der Sondertopf ausläuft?

Bis dahin haben wir beim Bürgergeld und der illegalen Migration hoffentlich jeweils mindestens zehn Milliarden Euro pro Jahr eingespart. Und natürlich brauchen wir Wachstum, sonst werden wir vieles nicht finanzieren können. Für mich war übrigens interessant, dass ein Sondervermögen für die Verteidigungsfähigkeit in der Bevölkerung hohe Akzeptanz hat.

Heißt das, dass Sie . . .

. . . dass ich mir das vorstellen kann? Mit dieser Frage habe ich jetzt gerechnet. Nein, kann ich nicht. Aber ich will nur sagen, dass die Vergangenheit das gezeigt hat.

Wir hören jedenfalls eine gewisse Offenheit für eine Reform der Schuldenbremse.

Ich werde für die Schuldenbremse kämpfen. In den Bundesländern aber ist die Situation eine andere. Sie haben nicht die Flexibilität, die wir im Bund haben. Darüber werden die Länder diskutieren wollen.

Friedrich Merz hat die Tür noch ein Stück weiter aufgemacht.

Das kann ich nicht erkennen.

Und wie wollen Sie den Anstieg der Sozialbeiträge bremsen?

Da gibt es drei Hebel. Wir müssen versicherungsfremde Leistungen über Steuern finanzieren, zum Beispiel die Gesundheitskosten der Bürgergeldempfänger. Das macht es im Haushalt schwieriger, aber das müssen wir hinkommen. Dann müssen wir über Effizienzen reden. Zum Beispiel haben wir in Deutschland viele stationäre Eingriffe wie zum Beispiel Leistenoperationen. Im Ausland werden diese Eingriffe in der Regel ambulant vorgenommen. Und dann geht es auch um die illegale Migration. Es kommen zu viele Menschen, die nicht kommen dürften und die im Sozialsystem verharren. Auch dadurch steigen die Beiträge.

Wie viel macht das denn aus?

Das kommt darauf an, wie mutig man an die einzelnen Punkte herangeht.

Wie viel von Ihrem Programm können Sie in möglichen Verhandlungen mit der SPD durchsetzen?

Darüber werde ich jetzt nicht spekulieren. Klar ist: Wenn wir einen Politikwechsel gestalten wollen, wie ihn sich viele Menschen wünschen, dann braucht die Union und braucht Friedrich Merz ein starkes Wahlergebnis.

Wie viel braucht er denn, um ein starker Kanzler zu sein?

Wir müssen schon deutlich mehr als 30 Prozent bekommen. Wenn wir den Politikwechsel nicht schaffen, werden wir in vier Jahren eine Situation haben wie in vielen europäischen Nachbarländern, wo die Rechtspopulisten zum Teil noch stärker sind als die AfD.

Und wenn die SPD aus ihrer Schwäche eine Stärke macht, nach dem Motto: Wir brauchen viele Zugeständnisse, sonst verlieren wir das Mitgliedervotum?

Meine Erfahrung ist: Politik reagiert erst dann, wenn der Abstand zwischen Rücken und Wand sehr schmal ist. Und schmaler als jetzt kann er nicht sein. Das wird auch ein möglicher Koalitionspartner sehen müssen.

Sonst regieren Sie nicht?

Natürlich müssen Demokraten kompromissfähig sein. Aber unser Land verträgt keine faulen Kompromisse mehr. Ich gehöre zu der Generation, die jetzt die Verantwortung trägt. Wenn die Ränder so stark werden, dass sie vielleicht alleine regieren können, muss auch ich mich dafür verantworten. Ich hoffe aber sehr, dass alle Beteiligten wissen, was die Stunde geschlagen hat.

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