Cannes-Gewinner | Cannes-Gewinner „Anora“: Sean Bakers schnoddrig-sexuelle „Pretty Woman“-Variante

Anora „Ani“ weiß, was sie will, und schmeißt sich dafür mit ihrem ganzen Körper ins Zeug, buchstäblich und Hals über Kopf. Gleich in der ersten Szene brennt Sean Baker sie auf die Leinwand und in die Köpfe: Ein in blau-violettes Neonlicht getauchter Raum, Stripperinnen tanzen in Zeitlupe vor sitzenden Männern oder machen auf ihren Schößen herum, dazu läuft Take Thats sich hochschraubende Pophymne Greatest Day. Bei Ani (Mikey Madison) bleibt die Kamera kleben, fängt sie dabei ein, wie sie einen Kunden „bedient“, und die roten Lichter im Hintergrund wirken wie sprühende Funken.

Mit der Eröffnungsszene macht Baker eine Klammer auf, die man bis zum Ende der 138 Minuten langen Tour de Force seiner Heldin nicht vergessen sollte. „Today this could be / the greatest day of our lives“, singen die Boyband-Popper von Take That, und der Konjunktiv entspricht dem erzählerischen Modus von Anora, für den Baker in diesem Jahr beim Filmfest in Cannes die Goldene Palme erhielt. Den Preis widmete er allen Sexarbeiterinnen.

Bewaffnet mit E-Zigarette und körperlichen Argumenten, geht Ani sieben Tage die Woche in einem New Yorker Stripclub auf Kundenfang. Weil sie als Einzige im Club Russisch spricht, wird sie von ihrem Boss dazu verdonnert, sich um Ivan „Wanja“ (Mark Eydelshteyn), einen im Hedonismus verhafteten Oligarchensohn, und dessen Freunde zu kümmern – herrlich auch, dass Eydelshteyns Jungspund wie ein lottriger Wiedergänger von Timothée Chalamet wirkt. Jedenfalls kommt eins zum anderen, auf den privaten Striptease folgt Sex gegen Bezahlung, folgt das Angebot, dass Ani eine Woche lang seine „dauergeile“ Freundin spielt. Er bietet ihr 10.000 Dollar an, sie handelt ihn auf 15.000 hoch.

Die erste Hälfte von Anora ist purer Exzess. Ani tauscht ihr Leben in dem runtergerockten Haus an den Bahngleisen gerne gegen Wanjas modernistische Villa, Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll ein. Baker zelebriert die Ektase, zeigt das Paar im Dauerspaß auf Partys in der Villa und schließlich in Las Vegas, wo auf eine partyinduzierte, musikvideoartig flotte Montagesequenz die Hochzeit der beiden Turteltäubchen folgt, inklusive Vier-Karat-Klunker. Die Grenzen verschwimmen zwischen ökonomischen Interessen und tatsächlicher Liebe, und Ani und Wanja sind beide auf ihre naiv-sympathische Art völlig menschlich in ihrem Lebenshunger und ihren teils amoralischen Entscheidungen.

Wie kein Zweiter hat sich Sean Baker auf die Seite der gesellschaftlichen Randgestalten geschlagen. In Starlet erzählte er von einer Darstellerin im „Porn Valley“, in Tangerine L. A. folgte er unter anderem zwei transgeschlechtlichen Prostituierten mit der Smartphone-Kamera durch die Straßen von Los Angeles. The Florida Project handelte von einer überforderten, aber liebenden Mutter und ihrer Tochter, die sich mit Almosen oder dem Verkauf von billigem Parfüm über Wasser halten. Dass die beiden im „Magic Castle“ hausen, einem heruntergekommenen Motel unweit des Walt-Disney-Resorts, ist die bildgewordene Manifestation jenes Kontrasts, den alle Baker-Filme gemein haben: zwischen Traum und Realität, zwischen filmischer Verspieltheit und Sozialrealismus.

Anis Traum gerät in Bakers schnoddrig-sexueller Variante des in vielen Kritiken nicht umsonst bemühten Klassikers Pretty Woman ins Wanken, als Wanjas Eltern ihrem Sohn die örtlichen Handlanger auf den Hals hetzen. „Er hat eine Prostituierte geheiratet?!“, brüllt Toros (Karren Karaguljan) in den Telefonhörer. Als er mit Garnick (Watsche Towmasjan) und Igor (Juri Borissow) in der Villa auftaucht, um die Frischvermählten zur Ehe-Annullation zu zwingen, überschlagen sich die Ereignisse: Wanja haut ab, und Ani zerlegt beim Kampf die halbe Villa und eine Nase, bevor die unfreiwilligen Möchtegern-Schläger sie stoppen können.

Baker lässt seine schnoddrige Cinderella-Story vollends in eine moderne Screwball-Komödie kippen, als Ani sich mit den drei schrägen, dabei nicht unsympathischen Typen, von denen sie Igor näherkommt, auf die Suche nach Wanja macht. Brighton Beach, Coney Island, Bars, Clubs: Die Bilder und die ins Absurde kippenden, wahnsinnig unterhaltsamen Szenen vibrieren – und doch gelingt es Baker, die Milieus, durch die er sein Quartett schickt, nicht dem Oberflächlichen preiszugeben. Bakers humanistischer Blick auf Sexworkerinnen und die „kleinen Leute“ ist voller Empathie, und sein wieder mal großartiges Ensemble, allen voran Mikey Madison, möchte man in die Arme nehmen.

Anora ist ein Film, unter dessen Oberfläche es, allen gelungenen Mechanismen des Unterhaltungskinos zum Trotz, subversiv brodelt. Da sind die kleinen Details und Anis Blicke am Rande, die etwas anderes erzählen als nur Spaß. Das Lachen hat oft zwei Seiten, denn so lustig die Szenen auch sind: Was bedeutet das alles für Ani, die ihrem vielleicht naiven, aber völlig nachvollziehbaren Luftschloss hinterherjagt?

Auf dem wilden nächtlichen Ritt der Schicksalsgemeinschaft, in der alle auf ihre Art von den Oligarchen erniedrigt werden, manifestiert sich eine Erkenntnis, an der Baker sich seit jeher abarbeitet: dass Geld und Klasse das System beherrschen und dass der amerikanische Traum auch ein perverser ist. Wenn sich ganz am Ende, nach diesem Wahnsinn, die Klammer schließt und der (kapitalistische) Traum und echte Emotionen sich berühren, dann offenbart sich die ganze Bitterkeit.

Anora Sean Baker USA 2024, 138 Minuten

CannesDisneyDollarE-ZigaretteElternEndeFilmFilmeFloridaFreundeGeldGrenzenHintergrundIgorIslandLLangLas VegaslebenLiebeLos AngelesMANMarkNOligarchenPartysPopperSexUSAWasserWeilWeiß
Comments (0)
Add Comment