Nein, Olaf Scholz ist nicht ausschließlich zu Wahlkampfzwecken in die Ukraine gereist. Zwar unterstellt ihm das die CDU; doch man darf schon annehmen, dass es dem Kanzler auch um ein Zeichen der Solidarität in sprichwörtlich dunklen Zeiten ging. Seit Wochen haben Russlands Bomben vor allem die Energieversorgung der Ukraine zum Ziel. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollen frieren im Winter und ihre Kampfmoral soll weiter sinken.
Logisch also, dass dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj der Besuch des weltweit zweitgrößten Unterstützers seines Landes gerade recht kam – zumal Scholz ihm auch dieses Mal die baldige Lieferung von Kampfpanzern, Raketen, Drohnen und Flugabwehrsystemen zusicherte.
Aber natürlich hat Scholz bei der Reise auch ein wenig an sich gedacht. Daheim in Deutschland hat der Wahlkampf begonnen und darin dürfte das Thema Ukraine noch eine große Rolle spielen. Bilder wie das aus dem staatlichen Krankenhaus in Kyjiw sollen dabei helfen: Scholz posiert freundschaftlich mit einem Soldaten, der im Kampf beide Beine verloren hat. Selenskyj ist auch mit im Bild.
Der Krieg in der Ukraine ist grausam für die Soldaten an der Front, die täglich ums Überleben kämpfen. Und er ist strategisch weitestgehend festgefahren: Auch wenn die ukrainische Armee derzeit in der Defensive ist, hat sie die russischen Soldaten bisher von der Hauptstadt und anderen neuralgischen Orten im Land fernhalten können. Aber spätestens wenn Donald Trump am 20. Januar als 47. Präsident der USA vereidigt wird, wird Bewegung in diesen Konflikt kommen. Einfach weil Trump schon angekündigt hat, keine Geduld mehr zu haben: Er will den Konflikt, in dem die USA bisher größtes Geberland für die Ukraine sind, beendet sehen.
Ein Diktatfrieden könnte eine enorme Fluchtwelle auslösen
Denkbar sind schnelle Friedensverhandlungen – und es ist unklar, ob sie für die Ukraine auf Augenhöhe stattfinden werden. Auffällig ist, dass Selenskyj in den vergangenen Tagen mehrfach betonte: Er befürchte, manche ostukrainische Regionen seien für sein Land auf absehbare Zeit verloren. Doch was genau Anfang des kommenden Jahres in der Ukraine passieren wird, ist derzeit unkalkulierbar. Und damit auch, worüber genau die deutschen Spitzenkandidatinnen in der heißen Wahlkampfphase diskutieren werden.
Der Ukrainekonflikt berührt etwa die Frage, wie Europa und die Nato sich vor dem russischen Imperialismus schützen können. Und hier in erster Linie, wie Deutschland seine Verteidigungsfähigkeit verbessern kann und woher die vielen Milliarden Euro, die dafür nötig sind, kommen müssen. FDP-Chef Christian Lindner durfte in der Sendung Caren Miosga am Sonntagabend schon mal lernen, dass eigentlich kein Wirtschaftsexperte glaubt, diese Milliarden könnten einfach nur durch Einsparungen beim Bürgergeld frei werden. Die Schuldenbremse muss weg, bis hinein in die CDU hat man das verstanden.
Und sollten Donald Trump und Russlands Machthaber Wladimir Putin sich auf den Worst Case verständigen, also einen schnellen Diktatfrieden, der die Ukraine einfach brutal dem Einflussbereich Russlands unterordnet: Dann könnten sich außerdem Hunderttausende Menschen auf den Weg Richtung Westen machen. Das Thema Migration würde noch mal ganz neu verhandelt. Das könnte vor allem die Union in die Bredouille bringen. Denn sie suggeriert ihren Wählerinnen und Wählern ja bisher, durch vereinzelte Abweisungen an den Grenzen könne man das Problem lösen, dass viel mehr Zuwanderer als früher auf Wohnraum, Kitaplätze und Sozialleistungen angewiesen sind.
Von CDU bis Wagenknecht – alle Seiten könnten an Zustimmung verlieren
Ohnehin hat sich die Union bisher als die Partei hervorgetan, die die unbedingte Aufrüstung des kriegsgebeutelten Landes vertritt – kein Waffensystem, das sie der ukrainischen Regierung nicht für ihren Abwehrkampf gegen die Russen liefern wollte. Allerdings gehört zur Wahrheit auch dazu, dass Friedrich Merz dazu in den Wahlkämpfen im Osten vergangenen Herbst selbst kurzzeitig verstummte – wohl wissend, dass viele Wählerinnen seinen Ukrainekurs ein bisschen zu krass finden.
Umso interessanter ist daher, dass die Union Scholz seit Neuestem vorwirft, „russische Angstnarrative“ zu verbreiten, weil der SPD-Kanzler immer mal wieder vor einem vermeintlichen Atomkrieg mit Russland gewarnt hat, sollte Deutschland allzu rasch allzu weitreichende Waffen liefern. In der SPD-Kampagne glauben sie fest daran, dass sie mit Scholz‘ sogenanntem Mitte-Kurs – Unterstützung für den Selbstverteidigungskampf der Ukraine, aber stets darauf achten, Putin nicht zu verärgern – einen großen Teil der Wählerschaft überzeugen können.
Dass nun führende CDU-Politiker Scholz mehrfach vorwarfen, den Deutschen „Angst“ einzujagen, könnte ein Indiz dafür sein, dass man auch in der Union befürchtet, Wählerinnen oder Wähler zu verlieren, wenn sich die Lage in der Ukraine zum Nachteil des Landes und seiner Verbündeten entwickelt. Denn die Frage stellt sich schon: Was könnte die CDU einer taumelnden Ukraine dann noch anbieten? Die Unterstützung durch deutsche Soldaten?
Klingt furchtbar zynisch, ist aber eine strategische Frage, die sie sich wohl auch in der CDU-Zentrale stellen: Je schlechter die Lage in der Ukraine ist, desto eher könnten Wechselwähler von der CDU zur SPD wandern. Einfach weil sie Angst vor einer Eskalation der Lage haben. Das Gleiche gilt für die Grünen, die ebenfalls sehr explizit mehr Unterstützung für die Ukraine fordern.
Auch wenn es nicht so schlimm kommt, was zu hoffen ist, wird die Lage in der Ukraine Auswirkungen auf den Wahlkampf haben. Mal angenommen, es kommt endlich zu ernsthaften Gesprächen über die Zukunft des Landes, so wie es auch Menschen in der Ukraine hoffen, dann könnte eine deutsche Partei, die aktuell um die Fünf-Prozent-Hürde kämpft, schnell Probleme bekommen: das Bündnis Sahra Wagenknecht. Dessen Forderungen nach Friedensverhandlungen für die Ukraine, mit denen das BSW im Osten neue Anhänger und Wahlen gewann, verpufft nämlich in dem Moment, in dem diese tatsächlich starten. Wagenknecht und die ihren stünden programmatisch weitestgehend blank da, wenige Wochen vor der Bundestagswahl.