Kurz vor der Euro-Einführung stürzt die Regierung. Ein Ortsbesuch zeigt: Die Lage ist komplizierter als gedacht. Auf welcher Seite steht die türkische Minderheit? Und wieso schätzen manche Roma Oligarchen wie Deljan Peewski?
Delyan Peevski bei einer Protestaktion vor dem bulgarischen Parlament (Archivbild)
Foto: Nikolay Doychinov/AFP/Getty Images
Der größte bulgarische Aufstand seit vermutlich zwölf Jahren – bis zu hunderttausend Demonstranten in Sofia – war zunächst nicht nur ein Aufbegehren gegen die ziemlich unpopuläre Einführung des Euro zum 1. Januar. Es ging um einen inzwischen zurückgezogenen Haushaltsentwurf der Minderheitsregierung, der erhöhte Abgaben sowie höhere Gehälter für Staatsangestellte vorsah.
Bulgarien war nach sieben vorgezogenen Wahlen zwischen 2021 und 2024 in fatalistischer Passivität versunken, die Wahlbeteiligung auf nur noch 34 Prozent eingebrochen, aber zuletzt begann sich plötzlich auch die urbane Jugend gegen die Korruption zu engagieren, und die Regierung musste gehen.
Der 45-jährige Deljan Peewski erfüllt alle Anforderungen an ein Hassobjekt
Die „Revolution der Gen Z“ beseelt zwar breite Schichten in- und außerhalb Bulgariens, mich interessierte aber das andere Lager. Es wird komischerweise von der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ DPS verkörpert, der traditionellen Vertretung der türkischen Minderheit.
Die DPS ist in einen türkischen und einen oligarchischen Flügel gespalten, die noch in den türkischen Hochburgen gewählte DPS-Dogan (nun APS) erhielt bei der Wahl im Oktober 2024 7,5 Prozent, die DPS-Peewski (nun DPS-NN) hingegen 11,5 Prozent. So viele Türken gibt es in Bulgarien gar nicht – laut der Volkszählung von 2021 liegt ihr Anteil bei 8,4 Prozent.
Der Zorn der Revolutionäre richtet sich gegen die DPS-NN, auf deren Stimmen die Regierung im Parlament angewiesen war. Während der Sofioter Großdemonstrationen wurde ein Parteilokal demoliert und ihr Chef, der ethnische Bulgare Deljan Peewski, nach einem gelungenen Hack seiner Wikipedia-Biographie als „bulgarisches Schwein und Oligarch“ vorgestellt.
Der 45-Jährige erfüllt alle Anforderungen an ein Hassobjekt: Bis zum Verkauf 2021 kontrollierte er über die Firma seiner Mutter einen Gutteil der bulgarischen Medien, ebenfalls seit 2021 steht er auf einer US-Fahndungsliste. Über sein Privatleben kursieren Gerüchte: Das wildeste besagt, er hätte zwei Frauen, die in Dubai wohnen, friedlich Tür an Tür.
Im Grunde konnte man in Vidin eher von einem Flashmob sprechen
Im nordbulgarischen Gebiet Vidin, das sämtliche Entvölkerungsrekorde der EU schlägt (einst 194.007 Einwohner, jetzt 75.408), existiert keine türkische Minderheit. Peewskis DPS-NN holte hier 2024 aber 21,5 Prozent. Als die Partei für den Vorabend eines weiteren Sofioter Protestmarsches ihrerseits eine Gegendemonstration ankündigte, fuhr ich nach Vidin.
Man muss sich die Region wie eine Landzunge vorstellen, die sich eingekeilt zwischen serbischer und rumänischer Grenze den reichen Zentren Westeuropas entgegenstreckt, dieses Dauerangebot eines Zungenkusses aber in keiner Weise erwidert bekommt. Vidin selbst liegt hübsch an der Donau, aber die Flusspromenade ist verschlammt, das von mir bezogene Uferhotel stank. Annehmbar waren noch die Preise: Eine „Kamel-Pizza“ machte für umgerechnet elf Euro sechs ausgewachsene Ägypter satt.
Das „Meeting“ der DPS-NN wurde vor dem Theater abgehalten, direkt an der Donau, am „Europaplatz“. Im Grunde konnte man eher von einem Flashmob sprechen – niemand blieb auch nur eine Sekunde länger als nötig. Etwa 200 Demonstranten hielten professionell vorfabrizierte Kartons hoch. Darauf standen Parolen wie: „Nein zum Chaos“, „Wir wollen einen stabilen Staat, Sicherheit für die Menschen, nicht Chaos und Zerfall“. Einer hielt feixend einen Karton hoch, der unter einem mannhaften Bild des Vorsitzenden gelobte: „Wir sind mit Ihnen, Herr Peewski!“
Runzlige alte Männer und lachende kleine Kinder schwenkten bulgarische und europäische Fahnen. Auf den ersten Blick war alles klar: Im Unterschied zu den Funktionären waren fast alle Demonstranten Roma. Sichtbar arme Menschen, deren Wählerstimmen keiner will: die rechtsextremen Parlamentsparteien aus Rassismus, die smarten Sofioter Reformer aus uneingestandenem Klassendünkel, die geschrumpften Sozialisten aus Unfähigkeit. Peewski dagegen will die Stimmen der Verachteten, holt sie kulturell mit „Mein Bulgarien“-Schnulzen und tanzenden Trachtenmädchen ab. Auch lässt er mal eine Kleinigkeit rüberwachsen.
Bald begannen sich die demonstrierenden Roma zu langweilen. Nach kaum einer Stunde rannten sie weg und belohnten sich im beinahe menschenleeren Zentrum mit Majo-Pizzen. Warum sie gekommen waren, konnten mir auch die Deutschland-Migranten unter ihnen nicht recht erklären: „Gutes Land, aber schlechte Menschen“. Auch die Funktionäre wollten nichts wie weg und ließen die weiß-blauen Parteiluftballons platzen. Um 19.15 Uhr erinnerte am Vidiner Europaplatz nichts mehr an die bulgarische Konterrevolution.
Im Morgennebel dann noch ein Stopp im Dorfcafé von Gramada, dort lief b-tv. Ich konnte das nicht verifizieren, aber laut einem dicken kahlen Rom, der schweigend das Frühstücksfernsehen sah, wird der Sender von Peewski kontrolliert. Das sei ein „guter Mann“, meinte er. Warum dann diese Proteste, fragte ich. Er antwortete: „Die Bulgaren wollen den Euro nicht.“
Serie Europa Transit Regelmäßig berichtet Martin Leidenfrost über nahe und fernab gelegene Orte in Europa