Bürgergeld: Wie verrottet darf man in Deutschland sein?

Würden deutsche Sozialdemokraten eine Zeitreise
ins Jahr 1883 unternehmen und dort dem französischen Sozialisten Paul Lafargue
in die Arme laufen, die Stimmung wäre vermutlich ziemlich mies. Mit Lafargues vor 150
Jahren erschienener Streitschrift Das Recht auf Faulheit könnten heutige
SPD-Politiker wenig anfangen – und umgekehrt könnte Lafargue, Schwiegersohn von
Karl Marx, wohl kaum fassen, wie die Nachkommen der sozialistischen Bewegung eben
jenes von ihm ausgerufene Recht im 21. Jahrhundert entschieden verneinen.

„Es gibt kein Recht auf Faulheit“, sagte
Lars Klingbeil, Parteivorsitzender der SPD, in
einem Interview kurz nach den sächsischen und thüringischen Landtagswahlen mit
Blick aufs Bürgergeld
. Das „Leben der Fleißigen“ solle verbessert werden, führt
Klingbeil darin aus, aber „wer sich einer Zusammenarbeit mit dem Staat
verweigert, der wird das zu spüren bekommen“.

Klingbeil dürfte sich darüber bewusst gewesen
sein, dass er mit seiner Rede von der Faulheit nicht nur Paul Lafargue, sondern
auch einen anderen Parteigenossen zitierte. Nahezu wortgleich hatte Gerhard
Schröder im Jahr 2001, damals seit drei Jahren Bundeskanzler, zur diskursiven
Einstimmung auf die Agenda 2010 in der Bild verkündet: „Es gibt kein
Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“

Faulheit als Kampfbegriff

Faulheit als politischer Kampfbegriff ist unglaublich
wirksam. Unklar, ob Klingbeil und Schröder wirklich jedes Rumfläzen auf
deutschen Sofas unter Verdacht stellen wollen. Die Volte, Arbeitslosigkeit mit
Faulheit gleichzusetzen, ist jedenfalls beinahe so alt wie der Kapitalismus
selbst. Doch sie geht einerseits an der Realität vorbei, in der Erwerbslose aus
vielen anderen Gründen als aus Lustlosigkeit keiner Arbeit nachgehen. Sie ist
andererseits auch dringender Anlass, um misstrauisch zu werden und genauer
hinzusehen: Die Behauptung, Menschen seien faul, diente in der Vergangenheit
oft genug der Legitimation ihres Elends – und lenkt von bedeutsameren
gesellschaftlichen Missständen ab.

Die Figur der faulen Arbeitslosen tauchte Ende
des 19. Jahrhunderts erstmals auf: Durch wirtschaftliche Krisen verloren
Menschen immer wieder ihre Arbeit in Fabriken, erstmals überhaupt wurde
Erwerbslosigkeit statistisch erhoben. Zur Erklärung dieses neuen Phänomens
diente eine Annahme, die wir bis heute kennen: Wer keine Arbeit hat, ist selbst
dran schuld.

Vom „parasitären Leben“ bis zum „kollektiven Freizeitpark“

In Deutschland unterliegt das Bild vom faulen
Arbeitslosen seither gesellschaftlichen Konjunkturen: Im Nationalsozialismus
galt, wer keine Arbeit hat, als „parasitäres Leben“. Zur Zeit des sogenannten
Wirtschaftswunders herrschten in Westdeutschland Wohlfahrtsstaat und nahezu
Vollbeschäftigung – und damit weniger Anlass, sich über faule Arbeitslose zu
beklagen. Aber im Laufe der folgenden Jahrzehnte betrat die Figur immer wieder
die Bühne der westdeutschen Öffentlichkeit: 1970 brach das Wachstum ein, Massenarbeitslosigkeit
war die Folge – Arbeitsminister Arendt sprach, in bemerkenswerter Nähe zur
nationalsozialistischen Metapher des Parasiten, von sozialem „Wildwuchs“. Mitte
der Neunzigerjahre, das Wirtschaftswunder war lang vergangen, warnte Kanzler
Helmut Kohl im Bundestag vor einem „kollektiven Freizeitpark“ und prägte den
bis heute populären Begriff der „sozialen Hängematte“. Ein knappes Jahrzehnt später
gelang es Gerhard Schröder nicht, die Arbeitslosigkeit wie im Wahlkampf
versprochen zu halbieren – woraufhin er das Recht auf Faulheit entschieden
verneinte.

Zwei Jahre später stellte Schröder die Agenda
2010 vor, in deren Zentrum die sogenannten Hartz-Reformen des Arbeitsmarktes
standen. Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zusammengelegt, Regelsätze
gesenkt, Arbeitslose durch Sanktionen eingeschüchtert. Hartz IV, das war nicht
nur das Synonym fürs Arbeitslosengeld II, sondern für viele auch Inbegriff
eines Lebensstils, wie ihn das nachmittägliche Privatfernsehen darstellte: „Hartzen“
bedeutete in der öffentlichen Darstellung oft Rauchen, Saufen und Faulenzen. Wohl
auch aufgrund dieses semantischen Schattens wählte die Ampelkoalition, als sie
eine Reform von Hartz IV beschloss, einen neuen Namen: Die Grundsicherung heißt
seit Januar 2023 Bürgergeld. Höhere Regelbedarfe sowie weniger Sanktionen sollen
Beziehern seither das Leben erleichtern. Ob sich dieses Versprechen
bewahrheitet, ist
mehr als umstritten
.

Würden deutsche Sozialdemokraten eine Zeitreise
ins Jahr 1883 unternehmen und dort dem französischen Sozialisten Paul Lafargue
in die Arme laufen, die Stimmung wäre vermutlich ziemlich mies. Mit Lafargues vor 150
Jahren erschienener Streitschrift Das Recht auf Faulheit könnten heutige
SPD-Politiker wenig anfangen – und umgekehrt könnte Lafargue, Schwiegersohn von
Karl Marx, wohl kaum fassen, wie die Nachkommen der sozialistischen Bewegung eben
jenes von ihm ausgerufene Recht im 21. Jahrhundert entschieden verneinen.

„Es gibt kein Recht auf Faulheit“, sagte
Lars Klingbeil, Parteivorsitzender der SPD, in
einem Interview kurz nach den sächsischen und thüringischen Landtagswahlen mit
Blick aufs Bürgergeld
. Das „Leben der Fleißigen“ solle verbessert werden, führt
Klingbeil darin aus, aber „wer sich einer Zusammenarbeit mit dem Staat
verweigert, der wird das zu spüren bekommen“.

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