Buchpremiere: Real, surrealistisch, egal

Als ich in Mitte mit dem Taxi losfuhr, schien noch die Sonne. Und als der Wagen vor dem unscheinbaren Eingang von Pierres Verlag in Kreuzberg hielt, setzte bereits die Abenddämmerung ein. Es war Sonntag, der erste Advent, wie die Christen sagen, aber das wurde mir erst klar, als ich die Tür zu einem ehemaligen Ladenlokal öffnete und überall kleine bunte Pappteller sah, auf denen kleine Mandarinen und Spekulatiuskekse von Rewe lagen. Wie immer, wenn ich mich zu weit vom Zionskirchplatz entfernt hatte, bekam ich in diesem Moment ein bisschen Panik.

Wo war ich hier gelandet? Der Raum war klein, voll mit Büchern und Menschen, und ich fragte mich, ob es überhaupt genug Luft gab, um eine ganze Stunde lang stumm und starr dazusitzen und ein Gespräch über hundert Jahre Surrealismus zu überleben. Pierre, der Amerikanist, der Professor, der Privatgelehrte, den ich aus dem Haliflor kannte, hatte nämlich ein Buch über diese hundert Jahre geschrieben, die an mir selbst völlig vorbeigegangen waren. Er hatte sich vom Honorar eine goldene Uhr von Jaeger-LeCoultre gekauft, und ich hoffte, er würde sie heute tragen, wenn er das erste Mal vor Leuten über sein Buch reden würde.

„Warum sind hier alle so leise?“, sagte ich jetzt viel zu laut zu Claudius, der schon da war und gerade auch etwas über den Surrealismus geschrieben hatte. „Da bist du ja endlich“, flüsterte er. „Glaubst du, wir müssen die ganze Zeit stehen?“, flüsterte ich jetzt auch. Es gab nur drei oder vier Stühle, einen davon für Pierre, einen für seinen Lektor, und ich dachte, keine Luft, keine Stimmung, nichts zum Sitzen, ich will sofort wieder nach Hause. „Keine Ahnung“, sagte Claudius streng, „aber es wird schon, Burschi.“

Plötzlich tippte mir von hinten jemand fest auf die Schulter. Pierre! Er hatte ein braunes Samtjackett an, dazu ein offenes weißes Hemd mit einer im Ausschnitt hängenden Lesebrille, Jeans und englische Rahmenschuhe, vermutlich von Crockett & Jones. Das war – zusammen mit den verwuschelten, aber gut geschnittenen Haaren – der Stil von Salem und Oxford, eingehegt von einer Art freiwilliger bürgerlicher Selbstbeschränkung. Ich guckte auf Pierres Handgelenk. Die Jaeger-LeCoultre hatte ein weißes Zifferblatt, war groß, aber nicht angebergroß, das Gold der Fassung machte sich nicht wichtig, war und blieb aber Gold. „Ihr seid wirklich gekommen! Wahnsinn!“, sagte Pierre auf Deutsch, mit diesem französischen Akzent, von dem die meisten Deutschen sofort weiche Knie bekamen. „Ja, klar“, sagte Claudius, „Surrealismus ist ja auch mein Thema.“ – „Mhm“, sagte ich. „Mein Thema bin ich selbst“, sagte Pierre und lachte so laut, dass ein paar Umstehende erschrocken zu uns herüberschauten, „mit Surrealismus kann ich so viel anfangen wie mit einem benutzten Teebeutel.“

Die Umstehenden waren übrigens lauter ältere Frauen und Männer mit den zerfurchten Gesichtern von Menschen, die vergessen hatten, dass sie nicht mehr zwanzig und gerade aus Pforzheim und Bielefeld ins alte West-Berlin gezogen waren, um hier Mama, Papa oder den fummelnden Onkel zu vergessen. Ihre Haare waren grau, die Frauen hatten zu viel Lippenstift, die Männer trugen Lederturnschuhe, deren Marken mir unbekannt waren. Hatten Sie noch mit David Bowie im Dschungel getanzt oder sich vom ehemaligen AlltagRedakteur Michael Rutschky an seinem kargen Küchentisch beschimpfen lassen? Und wie viel verband Pierre, den Dandy aus Lausanne, mit ihnen?

Das Gespräch, das Pierre dann mit seinem Lektor über sein Buch führte – es war ein kleiner Mann mit abstehenden grauen Haaren und einer körperlich spürbaren Weltscham –, überspringe ich besser, schon deshalb, weil wir dabei auf unbequemen Bierbänken sitzen mussten. Ich habe in dieser knappen Dreiviertelstunde jedenfalls nicht erfahren, was der Surrealismus war oder sein könnte. Ich dachte eigentlich immer, es ginge um Kunst und Literatur, um eine Realität, die noch nicht real genug war, um Freud und um schwebende Hüte und zersägte Frauenkörper. Für Pierre war der Surrealismus aber etwas ganz anderes: ein bigotter sozialer, politischer und kultureller Aufstand der Bürgerkinder gegen sich selbst – und damit die Erfindung jeder Jugendrevolte des 20. Jahrhunderts, von den Beatniks bis Occupy Wall Street. Dazu sollte man wissen, dass Pierre selbst ganz genau wusste, dass auch er eine Art Surrealist – aber ohne Surrealismus! – war, ein Mann, der vor dreiundvierzig Jahren in so widersprüchliche Verhältnisse hineingeboren wurde, die die meisten nur aus Serien wie White Lotus und Succession kannten. Verhältnisse, die ihn genauso störten und einengten wie ein zu kleines Brooks-Brothers-Hemd, das er sich aber trotzdem nie eine Nummer größer kaufen würde.

Auf dem Weg nach Hause – Claudius fuhr mich in seinem neuen roten Alfa Romeo zum rettenden Zionskirchplatz, wobei er mir den Surrealismus erklärte – roch es im Wagen plötzlich nach Hundescheiße. „Sorry, das bin ich“, sagte ich, „ich glaube, ich bin irgendwo in Kreuzberg im Dunkeln in etwas reingetreten.“ –„No worries“, sagte Claudius, „ich rieche gar nichts.“ Und das, fand ich, war dann der surrealste Moment dieses ersten Adventssonntags des ohnehin schon sehr unwirklichen Jahres 2024.

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