Es war Phillips Traum, Soldat zu sein. Mit 19 ging er freiwillig zur Bundeswehr. Der Brandenburger diente im Wachbataillon. Protokollsoldat im Ehrendienst zu sein, etwa wenn der Bundespräsident Staatsgäste begrüßt, das empfand der junge Gefreite als Auszeichnung. Nach ein paar Monaten bewarb er sich erfolgreich für eine Ausbildung zum Unteroffizier. Phillip war ein engagierter Vorzeigesoldat. Einer, mit dem Verteidigungsminister Boris Pistorius für seinen neuen, attraktiven Wehrdienst werben könnte. Ein junger Mann, der Deutschland dienen wollte.
Bis zu dem Tag, an dem er im Frühjahr 2021 in der Berliner Julius-Leber-Kaserne zum Opfer eines brutalen Aufnahmerituals wurde, das seine Träume zerstörte. Statt Kameradschaft erfuhr der Gefreite Phillip Z. sexuelle Gewalt und schwere Körperverletzung. Mindestens fünf Soldaten des Wachbataillons waren an einem Verbrechen beteiligt, das die Staatsanwaltschaft als gemeinschaftliche Vergewaltigung bezeichnet hat.
Sie hielten ihn gewaltsam fest
Die Haupttäter hatten ihn in einer Stube zunächst gewaltsam festgehalten und dann gewaltsam in der Hose einen harten Gegenstand zwischen seine Pobacken gepresst. Die wesentlich älteren Männer versuchten, ihm einen urologischen Fingerling oder auch etwas in Penisform in sein Rektum einzuführen. Was genau es war, blieb ungeklärt. Der Rekrut widersetzte sich vehement. Zugleich wurde er von Mittätern an den Geschlechtsorganen – Penis und Hoden – sowie an den Brustwarzen hart gefasst. Schließlich ließen sie von ihm ab. Danach passierte erst mal nichts. Die Täter drohten: Wir wissen, wo deine Eltern wohnen.
Aufgeflogen ist die Tat viel später, vor Gericht standen die Haupttäter erst in diesen Tagen. Im Oktober 2021 hatte das Verteidigungsministerium die komplette Kompanie wegen „abartiger Trink- und Aufnahmerituale“ vom Protokolldienst beim Bundespräsidenten entfernt. Beim „Aushängeschild der Streitkräfte“ entband man auch Vorgesetzte vom Dienst, die Wehrbeauftragte schaltete sich ein.
„Anurinieren unter der Dusche“
Im Gerichtsprozess bestritten die Angeklagten, dass ihre Ritual-Truppe namens „Wolfsrudel“ abgesehen von Saufkumpanei auch eine völkisch-nationalistischen Vereinigung gewesen sei. Zu den Ritualen, die das Ministerium schilderte, habe „das Anurinieren unter der Dusche, Faustschläge gegen die Leber oder Anzünden von Körperteilen mit Feuerzeug und Zigarette“ gehört.
Der spätere Vergewaltigungsvorwurf blieb ungenannt, obgleich Staatssekretär Gerd Hofe bereits damals „Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ ausdrücklich genannt hatte. Die beiden Haupttäter, Robby B. und Benjamin K., haben vor dem Berliner Landgericht vorige Woche die Verbrechen gestanden und wurden verurteilt. Ein weiterer mutmaßlicher Täter ist untergetaucht, vermutlich in Polen. Und auch der Vorgesetzte der Parade-Soldaten, ein erfahrener Mann von Mitte dreißig, wollte einer Strafe entgehen: Kontaktversuche des Gerichts und seines Pflichtverteidigers blieben unbeantwortet, dem Beginn der Hauptverhandlung entzog er sich. Der Richter erließ daraufhin Haftbefehl gegen den Ex-Soldaten.
Man hätte doch immer reden können
Drei Wochen später sitzt Tino K. doch in Berlin-Moabit vor einer Großen Strafkammer, frisch aus dem Untersuchungsgefängnis kommend. Jetzt tut es ihm leid, nichts unternommen zu haben, als der ihm anvertraute Untergebene Phillip Z. in seiner Stube von den anderen misshandelt wurde. Der Mann gibt an, seine unterlassene Hilfeleistung zu bedauern, dem Opfer bietet er eine finanzielle Entschädigung an. „Täter-Opfer-Ausgleich“ nennt man das im Staatsdeutsch, und es spielt dabei juristisch keine Rolle, dass dieses strafmildernde Angebot erst Jahre nach der Tat erfolgt. Auch die anderen offerieren im Verfahren ein paar Tausend Euro. Der Ex-Oberstabsgefreite Robby B., der aus Zwickau stammt und nun als Kraftfahrer arbeitet, schreibt jetzt sogar einen Entschuldigungsbrief an sein Opfer. Darin heißt es auch: Man hätte doch immer reden können.
Der Vorgesetzte gibt vor Gericht eine weitere Gewalttat zu. Dabei hatten er, selbst quasi unbekleidet, und ein halbes Dutzend weiterer Soldaten sich mit dem Kommando „Bombe!“ auf Phillip Z. geworfen. Eine schmerzhafte Attacke, bei der er unter extremer Atemnot und Angst gelitten habe, wie er vor Gericht aussagt. „Schweinehaufen“ nannten sie das bei der Truppe. Noch so ein angebliches Ritual. Abermals war die Stube 233 der Tatort, abermals war der Gefreite Z. seinen älteren Kameraden hilflos ausgeliefert. Alle Angeklagten beriefen sich darauf, dass es sich um Aufnahmerituale gehandelt habe, die in der Bundeswehr typisch seien. Sie selbst hätten das erlebt, jeder habe sein „Zäpfchen“ bekommen, so lassen es die ansonsten schweigsamen Männer über ihre Verteidiger ausrichten.
Was müssen Soldaten ertragen?
Ja, Rituale gehören zur Bundeswehr. Wer befördert wird, bekommt mit der neuen Schulterklappe einen Schlag auf die Schulter. Das kann allerdings ein Klaps sein, oder ein „Einhämmern“, bei dem am Ende alles blau ist. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Oberst André Wüstner, sagt auf Nachfrage der F.A.S., Aufnahmerituale könnten eine gute Sache für das Gemeinschaftsgefühl sein. Doch es gebe Grenzen. „Wenn Menschen diese Grenzen überschreiten, werden sie zu Recht zur Verantwortung gezogen.“ Aber was muss man ertragen?
Bei einem Panzergrenadierbataillon in Sachsen wird gerade ein Fall untersucht, wo junge Soldaten zum Erlangen ihres Bataillonsabzeichens, dem sogenannten Patch, einen Parcours durchlaufen mussten, bei dem sie mit Eiern und Wasserbomben beworfen und dabei auch geschlagen worden seien. Eine Art Spießrutenlaufen. Ist so was ein derber Spaß fürs Gemeinschaftsgefühl oder schon eine Straftat? Für den aktuellen Wehrbeauftragten Henning Otte gilt jedenfalls: „Praktiken oder vermeintliche Rituale, die auf Entwürdigung und Gewalt setzen, sind inakzeptabel. Sie dürfen in unserer Bundeswehr keinen Platz haben und müssen durch die Dienstaufsicht unterbunden werden.“
Pistorius: Jeder Verdacht werde ernst genommen
Die Truppe braucht eigentlich dringend Nachwuchs. Der Richter nennt die Bundeswehr bei der Urteilsverkündung einen „spezifischen Haufen“, der seine eigenen Regeln und Rituale kenne, „die sich nicht immer an Recht und Gesetz halten“. Immer wieder kommt es zu erniedrigenden Umgangsformen und Strafaktionen. So berichtete die damalige Wehrbeauftragte Eva Högl im vorigen Jahr: Ein Hauptfeldwebel urinierte in Abwesenheit des Betroffenen in dessen Shampooflasche und platzierte diese wieder im Duschraum. Damit wollte er ihn disziplinieren, Gegenstände nicht in den Gemeinschaftsunterkünften stehen zu lassen. Der Soldat rieb sich am Nachmittag mit dem Gemisch ein, berichtete Högl, deren Amt jedes Jahr eine Vielzahl ähnlicher Fälle erfährt.
Es komme immer wieder zu „sexualisiertem Fehlverhalten“
Andernorts musste für drei Tage jeweils der Rekrut, der zuletzt etwas falsch gemacht hatte, einen Vorschlaghammer als „Hammer der Schande“ bei sich führen. Immer wieder komme es zu „sexualisiertem Fehlverhalten“, wie Högl formulierte. Das werde oft vertuscht. Bei der Marine etwa gelte wohl der Grundsatz: „Was an Bord geschieht, bleibt an Bord!“ Högl weiter: „Das Geschehene dürfte jedoch für die Betroffenen nicht erledigt sein, wenn sie von Bord gehen“. Högl begrüßte es daher, dass Pistorius eine wissenschaftliche Dunkelfelduntersuchung zu Ursachen, Ausmaß und Folgen von sexualisiertem Fehlverhalten in Auftrag gegeben hat. Die Bundeswehr könne ihrer Fürsorgepflicht nur gerecht werden, wenn ein mögliches Fehlverhalten ans Licht komme.
Die Studie ist noch nicht erschienen, und für Phillip Z. brachte das Licht keine Perspektive. Monatelang behielt er das Geschehen für sich, bedroht von den Kameraden, mit denen er weiter Dienst und die Stuben teilen musste. „Ich habe versucht, die zu meiden“, berichtet er vor Gericht. Doch sein Zustand verschlechterte sich. Seine Leistungen ließen nach. Angst, Hilflosigkeit, Panikattacken befielen ihn. Bis heute gerate er in Unruhe, wenn Menschen hinter ihm seien, Duschen mit den Kameraden im Handballverein – unmöglich. 2022 folgten ein Zusammenbruch und ein stationärer Krankenhausaufenthalt. Sein Psychiater sagt vor Gericht, es sei eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden.
„Wir haben keinen Platz für Dich, Du kannst das nicht“
Phillip Z. wird nach Ostbrandenburg versetzt, weg vom Wachbataillon, kann über längere Zeit nicht zum Dienst. Eine Wiedereingliederung des Patienten sei am Widerstand der Bundeswehr gescheitert, „das Therapieziel war so nicht zu realisieren“, so sein Therapeut vor Gericht. Die Botschaft der Bundeswehr an den Soldaten sei gewesen: „Wir haben keinen Platz für Dich, Du kannst das nicht“. Über einhundert Therapiesitzungen habe es gegeben. Bis zum Ende des Dienstes. Eine Verteidigerin behauptet, bei der normalen Krankenkasse hätte Z. maximal zwanzig bekommen. Der Rest falle unter „Lebensberatung“. Überhaupt das alles, moniert ein Kollege, für einen Vorfall, der zwanzig Sekunden gedauert habe.
Der Richter entgegnet später, die Dauer spiele hier keine Rolle – ein Kopfschuss brauche nur Sekundenbruchteile. Das gehe also noch schneller und habe doch noch größere Wirkung, so der Richter. Was im speziellen Fall und offenbar nicht zu ersten Mal geschehen ist, sei „das Gegenteil von Kameradschaft und völlig indiskutabel“. Einer der Verteidiger spricht von einem „Einführungsritual“, beim dem es „nicht um Erniedrigung, sondern um Aufnahme in eine Gemeinschaft“ gegangen sei.
Alle legen Wert darauf, dass sie bei den Taten auf gar keinen Fall sexuell erregt gewesen seien. Deswegen waren ihre Verbrechen dennoch Sexualdelikte, wie der Richter im Urteil ausführt und von einer „eindeutig sexualbezogenen Handlung“ spricht. Die „Manipulation im Analbereich“ sei ebenso eindeutig, wie die „Wahl der Körperteile, die in Mitleidenschaft gezogen wurden“, also Penis und Brustwarzen, die gepresst oder „geknetet“ wurden.
Verurteilt werden die Angeklagten zu Haftstrafen von einem Jahr und zehn-, beziehungsweise acht Monaten wegen schwerer sexueller Nötigung. Nicht wegen Vergewaltigung, denn trotz ihrer Geständnisse kann nach detaillierten Erörterungen nicht geklärt werden, ob die Tat vollendet und eingedrungen wurde. Das Opfer hatte ausgesagt, er habe das mit starker Muskelanspannung abgewehrt. Der Dritte im Saal kommt mit einer Geldstrafe wegen Wegsehens und Körperverletzung davon.
Der Traum des Phillip Z., sich als Berufssoldat zu verpflichten, ist zerstört. Heute arbeitet er als Erzieher mit Jugendlichen.
Source: faz.net