Offiziell gibt es in Großbritannien nur etwas mehr als vier Prozent Arbeitslose. Doch hinter dieser Zahl liegt ein Berg von Erwerbsunfähigen, dauerhaft Krankgeschriebenen und aus anderen Gründen Nichterwerbstätigen. Laut jüngster Statistik sind 2,8 Millionen Menschen in Großbritannien nicht arbeitsfähig und beziehen Sozialleistungen, weil sie langfristig krankgemeldet sind. Das sind fast acht Prozent der Personen im Erwerbsalter. Dieser Anteil ist einer der höchsten in Europa. Die Zahl liegt weit über den anderthalb Millionen offiziell arbeitslos Gemeldeten. Dazu kommen noch mehr als acht Millionen ökonomisch Inaktive, also Menschen, die mehr oder weniger freiwillig keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Premierminister Keir Starmer hat das mit einer doppeldeutigen Feststellung kommentiert: „Britannien arbeitet nicht“ oder „Britannien funktioniert nicht“, so kann man den Satz übersetzen.
Die Labour-Regierung versucht nun, mit der nach eigenen Angaben „größten Arbeitsmarktreform seit Jahrzehnten“ den Anteil der chronisch Kranken und Erwerbsunfähigen zu senken und mehr jungen Menschen den Weg in den Arbeitsmarkt zu ebnen. Kritik kam indes aus der Wirtschaft, die der Labour-Regierung vorwirft, mit höheren Steuern gerade ein gegenteiliges Signal gegeben zu haben: Die Arbeitgeber würden sich deshalb mit Neueinstellungen zurückhalten.
Arbeitsministerin Liz Kendall hat in einem neuen Weißbuch als Ziel verkündet, dass die Erwerbstätigenquote auf 80 Prozent wachsen soll. Bislang liegt sie bei 75 Prozent. Labour will mit einer Reform der Jobvermittlung durch modernere Jobcenter, personalisierte Angebote und mehr Ausbildungsmöglichkeiten die Chancen steigern. Bislang sind die Jobcenter zu sehr mit dem Auszahlen von Arbeitslosengeld beschäftigt. Künftig sollen sie sich mehr um Qualifikationen und Karrieremöglichkeiten kümmern. Junge Leute sollen eine „Ausbildungsgarantie“ erhalten.
Jeder Vierte leidet an einer Gesundheitsbeeinträchtigung
Mehr Personal für den staatlichen Gesundheitsdienst NHS soll helfen, die Masse an chronisch Kranken schneller zu behandeln. Laut Angaben der Regierung leidet annähernd jeder Vierte im Alter zwischen 16 und 64 Jahren in Britannien an einer Gesundheitsbeeinträchtigung, die seine Arbeitsleistung vermindert. In dem Weißbuch skizziert Kendall, wie die Regierung 125 Millionen Pfund (knapp 150 Millionen Euro) in acht Regionen in England und Wales investieren will, um die Arbeitsvermittlung, Gesundheit und Qualifizierung zu verbessern.
Angesichts dieser Summe wirkt die Bezeichnung der Pläne als „größte Arbeitsmarktreform seit einer Generation“ etwas hoch gegriffen. Das Land steht vor einer rasch wachsenden Rechnung für Sozialleistungen für Kranke. Bis Ende der Legislaturperiode könnte diese laut Rechnung von Fachleuten auf 100 Milliarden Pfund steigen. Die Tory-Opposition kritisierte, Labour scheue schmerzhafte Einschnitte bei den Sozialausgaben, die aber notwendig seien.
Kritik an der Labour-Regierung kommt immer stärker aus der Wirtschaft. Der Vorsitzende des Unternehmensverbands Confederation of British Industry (CBI), Rupert Soames, warf Starmer und Finanzministerin Rachel Reeves vor, ihre Politik stehe im Widerspruch zum Ziel, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Reeves hat jüngst in ihrem Budget eine Erhöhung der Arbeitgeber-Sozialabgaben um 25 Milliarden Pfund beschlossen. Dies stehe im Konflikt mit dem Wunsch an die Unternehmen, mehr Leute einzustellen. Eine jüngste Umfrage der CBI ergab, dass die Hälfte der befragten Unternehmen ihre Mitarbeiterzahl reduzieren wollen als Reaktion auf die Steuererhöhung. Zwei Drittel wollen weniger neu einstellen.