CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ruft insbesondere die Jungen in der Union auf, „bis zum Tellerrand oder vielleicht sogar darüber hinaus“ zu denken. Doch sein eigenes Plädoyer für „Mut“ legt eine Schwäche der Partei offen.
Vielleicht liegt die ganze Verzagtheit dieser Republik auch daran, dass ihre Kanzlerpartei nicht richtig feiern kann. 75 Jahre ist es in diesem Herbst her, dass sich die Christlich Demokratische Union zum ersten Mal zu einem Parteitag zusammengefunden hat. Konrad Adenauer, damals schon Bundeskanzler, wurde im Oktober 1950 in Goslar zum ersten Mal zum Vorsitzenden einer bis dahin eher losen politischen Vereinigung von Konservativen gewählt.
Im Folgenden gewann die CDU 17 von 20 Bundestagswahlen und stellte in 52 von 75 Jahren den Bundeskanzler beziehungsweise die Kanzlerin. Grund genug zum Feiern gäbe es also nach diesem für die Partei so außerordentlich erfolgreichen Dreiviertel-Jahrhundert.
Stattdessen verstecken sich rund 400 Christdemokraten am Mittwochabend im Untergeschoss des Hotels „Achtermann“ in Goslar, eines Tagungshotels am Rande des Harzes, und hören sich erwartbare Grußworte und Festreden an. Von der aktuellen Parteispitze ist lediglich Generalsekretär Carsten Linnemann angereist. Der Vorsitzende, Bundeskanzler Friedrich Merz, fehlt beim von der parteinahen Konrad-Adenauer-Stiftung ausgerichteten Jubiläum ebenso wie der Großteil des CDU-Präsidiums und der Landesvorsitzenden.
Nur der niedersächsische CDU-Chef Sebastian Lechner als Quasi-Gastgeber und der sachsen-anhaltische Spitzenkandidat Sven Schulze aus dem nahen Magdeburg sind angereist. Die beiden haben versucht, das kaum Vermeidbare mit dem einigermaßen Nützlichen zu verbinden, und ihre Landesvorstände am selben Tag zu einer Vorstandssitzung nach Goslar gebeten. Irgendwie muss man die Plätze im Großen Saal des Tagungszentrums ja füllen.
Hauptredner des Abends ist Linnemann, der die Aufgabe übernommen hat, eine „Grundsatzrede“ zu halten. Anlass genug für eine richtungsweisende Ansprache gäbe es: Sechs Monate nach der erneuten Übernahme des Kanzleramts steckt die Jubilarin in einer Identitätskrise, die sich nicht allein aus der bloßen Existenz der AfD speist. Die Konkurrenz vom rechten Rand verschärft nur die Verunsicherung der Union, ebenso wie die komplizierte geostrategische Lage.
Die CDU, das zeigt sich auch an diesem Jubiläumsabend, weiß zwar noch immer, woher sie kommt. Aber wer sie ist, wer sie sein und wo sie eigentlich hin will nach Merkel und Merz – das hängt 75 Jahre nach dem Gründungsparteitag weitgehend in der Schwebe.
Eine Spitze gegen Markus Söder
Carsten Linnemann ist sich dieser prekären Lage vermutlich bewusst. Jedenfalls beginnt er seine Grundsatzrede nach einem verklärenden Ausflug in die Adenauer-Zeit mit einem Lamento über die heutige Politiker-Generation: Die finde kaum noch Zeit finde für das Ernsthafte, das große Ganze, weil sie ständig die sozialen Medien bedienen und darauf achten müsse, was sie anziehen oder gerade essen sollte. Letzteres wird vom Publikum hörbar als Anspielung auf CSU-Chef Markus Söder wahrgenommen, dessen Partei auch vor 75 Jahren nicht mit von der Partie war in Goslar.
Immerhin: Linnemann hat seinen kleinen Schmunzler platziert. Beklagt sich dann noch kurz über die Allgegenwärtigkeit der Medien im politischen Geschäft und fordert schließlich die „junge Generation“ auf, „im Denken“ künftig wieder vermehrt „bis zum Tellerrand oder vielleicht sogar darüber hinaus“ zu kommen.
Dem Generalsekretär gelingt das im Folgenden nicht. Er verharrt im zweiten Teil seiner Rede strikt auf seinem eigenen Teller, indem er fordert, was er immer fordert, seitdem er CDU-Generalsekretär geworden ist: mehr Mut, weniger Bürokratie, mehr Sozialreformen. „Das Wichtigste ist der Mut“, zitiert Linnemann als Beleg für sein Ceterum Censeo Adenauer, den ersten CDU-Vorsitzenden.
„Der gute Politiker, der muss nicht nur vieles wissen, er muss nicht nur realistisch denken, er muss überlegen können. Aber er muss auch Mut haben, dasjenige, was er als richtig erkannt hat, nun anderen zu sagen, zu vermitteln und durchzusetzen.“ Und er wolle ergänzen, sagt Linnemann: „Es braucht den Mut, auch mal anzuecken, auch mal Widerspruch zu ernten.“
Konkreter wird der CDU-Generalsekretär nicht in seiner „Grundsatzrede“, weshalb man in diesem Moment fast automatisch an Johann Wadephul denken muss. Der hatte es in dieser Woche in der Bundestagsfraktion der Union tatsächlich gewagt, „mal anzuecken, auch mal Widerspruch zu ernten“, indem er eine schnelle Rückkehr von Syrern aus Deutschland in ihre Heimat infrage stellte und die Situation dort als „schlimmer“ als die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg darstellte. Ist dem Bundesaußenminister nicht besonders gut bekommen. Manche in seiner Partei sortieren schon mögliche Nachfolger.
Aber dann spielt auch schon die Musik im „Achtermann“ in Goslar. Alles drängt in den Nebensaal zu Bier und Snacks, und das große CDU-Jubiläum ist vorbei.
Ulrich Exner ist politischer WELT-Korrespondent und berichtet vor allem aus den norddeutschen Bundesländern.
Source: welt.de