Brasilien | Sozialer Supergau: Brasilien drängt Saisonarbeiter in Soloselbstständigkeit

Aparecido Bispo ist ein umgänglicher Typ. Für den 52-jährigen Gewerkschafter öffnen selbst Plantagenbesitzer wie Glaucio Antonio Davaglio das mit Maschendraht bespannte Eingangstor zur Fazenda Arara. Auf knapp 40 Hektar werden auf deren Terrain Orangen, Limonen und Clementinen angebaut.

„Wir produzieren in erster Linie für den lokalen Markt. Nur der Überschuss geht an eine der umliegenden Saftfabriken“, erklärt Davaglio, ein stämmiger Mann Ende 40. Sein Familienbetrieb ist nur ein kleiner Fisch auf dem brasilianischen Zitrusmarkt, der von den drei Großen – Cutrale, Citrosurco und der Louis Dreyfus Juice Company – dominiert wird. Sie kontrollieren das Geschäft und exportieren ihren Orangensaft in alle Welt.

Produziert wird hauptsächlich im Bundesstaat Sāo Paulo, wo mehr als 70 Prozent der Orangen herkommen, die man zu Saft verarbeitet.

Die Region um Boa Esperança do Sul, wo Aparecido Bispo 2019 mit Gleichgesinnten die Landarbeitergewerkschaft SER gegründet hat, ist eine wichtige Anbauregion. Hier befindet sich auch die Zitrusfruchtfarm von Glaucio Antonio Davaglio, der ein paar Mal mit Aparecido Bispo zu tun hatte, um strittige Fragen wegen der Entlohnung und Unterbringung von Pflückern zu klären.

Zu milde Strafen

Man konnte sich durch die Vermittlung der Gewerkschaft einigen, die gut 300 Mitglieder beiderlei Geschlechts in der Region rund um Boa Esperança do Sul vertritt. Immer sind drohende Konflikt schnell beigelegt worden. Ein Grund dafür, dass Bispo heute gemeinsam mit Sandra Dusch von der Christlichen Initiative Romero (CIR) und zwei Journalisten die Orangenfarm besuchen darf.

Das ist ungewöhnlich in Brasilien, wo die Tore derartiger Unternehmen in aller Regel für Journalisten und Vertretern von kritischen Nichtregierungsorganisationen wie der CIR aus dem westfälischen Münster geschlossen bleiben. Sandra Dusch kennt die Verhältnisse im Orangen-Sektor des Landes en détail, sie hat mehrere Broschüren verfasst und ist froh, an der Seite Davaglios einen Blick auf die Produktionsverhältnisse dieser Farm zu werfen.

Besichtigt werden die beiden Hallen, in denen Traktoren stehen, Tanks mit Bio-Dünger lagern und in einem abgetrennten Teil auch die Unterkünfte für die Pflücker-Kolonne zu finden sind. Wasserspender, eine kleine Küche, Stockbetten in drei, vier sauberen Zimmern führt ein Mitarbeiter bereitwillig vor. Das bleibt auch so, als nach den sanitären Einrichtungen gefragt wird.

Es geht weiter zur Solaranlage hinter den beiden Hallen, die seit gut zwei Jahren dafür sorgt, dass die Fazenda energetisch unabhängig ist. Der Stolz auf eine moderne Zitrusfarm ist dem Eigentümer Glaucio Antonio Davaglio anzumerken, der während des Rundgangs seine anfängliche Nervosität langsam ablegt. „Unsere Ernte in diesem Jahr war deutlich besser als 2024. Wir hatten knapp zwanzig Prozent mehr an Ertrag und weniger Wasserprobleme, allerdings mehr Probleme mit Schädlingen“, erzählt er.

Vier Festangestellte habe er gegenwärtig, die alles am Laufen hielten. Während der Ernte, die in der Regel im Mai beginnt, sind rund ein Dutzend Frauen und Männer aus einem der Bundesstaaten im Norden mit einem Vorarbeiter hier, um die Früchte zu bergen und in großen Kunststoffsäcken zu verpacken. Sie werden auf lokalen Märkte verkauft oder in einer Saftfabrik verarbeitet. Oft würden diese Kolonnen – sie handelten ihre Arbeitsverträge zumeist mit dem Vorarbeiter, nicht dem Plantagenbesitzer aus – gnadenlos ausgebeutet, meint Sandra Dusch. Aparecido Bispo, der früher selbst als Pflücker geschuftet hat, nickt zustimmend.

Es kommt immer wieder vor, dass die vom Arbeitsministerium in Brasilia festgelegten sozialen Standards unterlaufen werden. „Das belegt die ‚Schwarze Liste‘, die jedes Jahr im April von diesem Ministerium veröffentlicht wird. Dort werden die gravierendsten Fälle von Arbeitsrechtsverletzungen zusammen mit den dafür verantwortlichen Unternehmen aufgelistet“, erläutert der Gewerkschafter mit dem graumelierten Haarschopf.

In Brasilien sei es leider nach wie vor so, dass unter sklavenähnlichen Bedingungen im Orangen- und Kaffeeanbau geschuftet werde. Es gäbe miese Unterkünfte, eine Art Schuldknechtschaft durch das Berechnen von Wucher-Preisen für einen Schlafplatz, für den Transport und die Lebensmittel. Hinzu kämen lange Arbeitszeiten sowie riskante Arbeitsbedingungen. Auch würden Arbeiter auf den Farmen gegen ihren Willen länger festgehalten als vereinbart, was das brasilianische Arbeitsgesetz eigentlich unter Strafe stelle.

Beispiel Müllabfuhr

Dass diese Praxis angegriffen werde, geschehe zu recht, findet Livia Miraglia, Dozentin für Arbeitsrecht an der Universität von Minais Gerais. Sie erwartet mehr von der Justiz des Landes, befürwortet höhere Strafen für all jene, die mit dem Elend der Saisonarbeiter im Orangen- und Kaffeesektor viel Geld verdienen. Zu oft werde in Brasilien massive Ausbeutung wie ein Kavaliersdelikt behandelt, statt wie ein ernstzunehmendes Verbrechen geahndet, moniert Miraglia.

Erschwerend käme hinzu, so Aparecido Bispo, dass sowohl die Strukturen im Arbeitsministerium wie im Gewerkschaftssektor spürbar geschwächt seien. „De facto wurde in den vier Jahren des Präsidenten Bolsonaro zwischen 2019 und 2023 das Arbeitsministerium seines Amtes enthoben, weshalb die Zahl der Inspektionen wegen Arbeitsrechtsverletzungen auf den Farmen rapide zurückging.“

Erst unter dem neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva seien die Überprüfungen wieder aufgenommen worden. Bis heute hätten sie freilich nicht das Niveau von vor zehn Jahren erreicht. Die Gründe dafür lägen auf der Hand. „Unter „Lula“ wurden zwar knapp 900 neue Inspektoren und Inspektorinnen eingestellt, parallel dazu gingen aber etwa tausend in Rente. Folglich sind vor allem die zuständigen Abteilungen in den Arbeitsministerien einzelner Bundesstaaten dünn besetzt“, beklagt Bispo.

Für den Unternehmer Glaucio Antonio Davaglio sind das Fakten, mit denen er möglichst wenig zu tun haben will. „Wir arbeiten sauber und haben unser Auskommen. Außerdem kooperieren wir mit Bispo und seiner Gewerkschaft.“ Mit einem hilflosen Lächeln verabschiedet er sich. Das ist alles andere als typisch in Brasilien, wo die Gewerkschaften seit 2019 deutlich an Einfluss und Präsenz verloren haben.

Grund dafür ist eine Gesetzesänderung, die das pauschale Abführen von einem Tageslohn pro Jahr als Gewerkschaftsabgabe gestoppt hat. Das habe die Gewerkschaften landesweit in die Krise getrieben, etliche Vertretungen der Arbeiternehmer seien schlicht pleite gegangen, so Sandra Dusch beim Verlassen der Fazenda Arara. Darunter sei auch die Landarbeitergewerkschaft FERAESP gewesen, für die Aparecido Bispo bis 2018 aktiv war.

2019 gründete er daraufhin mit einem kleinen Kreis von Gleichgesinnten das Sindicato Dos Empregados Rurais (SER). „Wir arbeiten von unten, sind direkt mit den Landarbeitern in Kontakt, helfen Kleinbauern und versuchen, initiativ zu bleiben“, meint Bispo und lenkt den Wagen in Richtung der Provinzstadt Araraquara. Für ihn sei direkter Kontakt unverzichtbar, sowohl zu Plantagenbesitzern wie Davaglio als auch zu Experten für Arbeitsrecht, vor allem aber zu denen, die man vertreten wolle – die Landarbeiter.

„Wir organisieren Seminare, aber auch Grill-Events mit Musik, kleine Parties, kümmern uns um Fälle von Landbesetzungen und um Anwälte, falls die gebraucht werden. Für Bispo ist das überfällig, denn es stehe um die Arbeitsrechte nicht nur in den ländlichen Regionen Brasiliens schlecht, in denen sich Millionen bei der Orangen-, Kaffee-, Soja- oder Palmölernte aufreiben.

Ein Eindruck, den nicht zuletzt erfahrene Juristen wie Rafael de Araújo Gomes, Staatsanwalt für Arbeitsrecht aus Araraquara im Bundesstaat São Paulo, teilen. „Outsourcing ist das zentrale Problem bei uns. Es laufen gerade mehrere Gesetzesinitiativen, um mehr Soloselbstständigkeit zu etablieren.“ Für Gomes wäre die flächendeckende Durchsetzung eines derartigen sozialen Status, wie sie die Gesetzesvorlage PLP 229/19 vorantreiben will, ein sozialpolitischer Supergau.

Dessen Folgen könne man bereits am Beispiel der Müllabfuhr in einzelnen der 27 Bundesstaaten studieren. Auch Uber-Fahrer sollten, falls eine weitere Gesetzesvorlage durchkomme, zur Soloselbstständigkeit genötigt werden. Für Gomes untergraben derartige Initiativen nicht nur die Arbeitsgesetzgebung, sondern auch das System der Sozial- und Rentenversicherung. „Uns droht ein sozialer Roll Back.“

Gomes verweist darauf, dass gerade jüngeren Arbeiternehmern die Kehrseite der Soloselbstständigkeit wenig bewusst sei. Das sieht der Gewerkschafter Aparecido Bispo genauso. Er ist mit Gomes der Meinung, dass große Unternehmen wie Cutrale sehr wohl wüssten, wo ihre Vorteile bei derartigen Gesetzen lägen. Der Orangensaft-Gigant wäre garantiert unter den ersten Firmen, die neue Arbeitsverträge für Soloselbstständige geltend machen würden.

Bislang sei das noch ein Szenario, ein Trost aber könne das nicht sein, findet Bispo. Gewerkschaften müssten dem, was sich abzeichnet durch mehr innere Erneuerung gewachsen sein. Es gebe dazu absolut keine Alternative.

Brasiliens Gewerkschaften

Seit jeher sind die Strukturen stark segmentiert. Es gibt etwa 3.800 Einzelverbände, die 7,8 Millionen Mitglieder zählen, wobei bestimmte Zusammenschlüsse nur einige hundert Anhänger vereinen können. Das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, besteht laut Verfassung auf nationaler, bundesstaatlicher und kommunaler Ebene.

Die vorhandene Fragmentierung befördern die Berufssparten zusätzlich. Im Agrarsektor gehören derzeit 600 Einzelverbände zur überregionalen CONTAR, der sich vier Millionen Landarbeiterinnen und Landarbeiter angeschlossen haben, Tendenz fallend. Als gesamtnationaler Verband fungiert der 1983 gegründete Central Única dos Trabalhadores (CUT/24 Millionen Mitglieder), der traditionell dem Partido dos Trabalhadores (PT) von Präsident Lula da Silva nahesteht, auch wenn beide ihre strikte Autonomie betonen. Lutz Herden

Knut Henkel ist freier Journalist in Hamburg und bereist regelmäßig Lateinamerika wie Südostasien

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