Ein Blutfleck auf einem Stück Stoff aus dem Führerbunker wurde unlängst von einer bekannten Genetikerin für eine neue Doku des britischen TV-Senders Channel 4 untersucht. War NS-Diktator Adolf Hitler im medizinischen Sinne krank?
Wie ein Mensch ist, hat zweifellos mit seinen Genen zu tun. Wie viel allerdings genau ist auch ein Vierteljahrhundert nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Oktober 2000 weiter vollkommen unklar. Womit sich zwangsläufig die Frage stellt, wie viel am Handeln einer konkreten Person in ihrer individuellen DNA programmiert ist. Der britische TV-Sender Channel 4 will jetzt in seinem Zweiteiler „Hitler’s DNA: Blueprint of a Dictator“ Antworten geben. Allerdings gibt es vielerlei Gründe, darin einen Irrweg zu sehen.
Channel 4 gibt an, man habe eine mit Blut beschmierte Stoffprobe untersucht, die vom Sofa aus Hitlers Arbeitszimmer im Berliner Führerbunker (gelegen im Garten hinter dem damaligen Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße in Mitte) stammen soll. Das einige Dutzend Quadratzentimeter große Stück befindet sich heute im privaten Gettysburg Museum of History, das hauptsächlich Exponate zur US-Militärgeschichte vom Sezessions- bis zum Vietnamkrieg zeigt. Der Fetzen soll aus dem Besitz von Colonel Roswell P. Rosengren (1902–1988) stammen, der im Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Funktionen tätig war, unter anderem als Presseoffizier von Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower.
Nach Eintreffen der US-Truppen in der Reichshauptstadt Berlin Anfang Juli 1945 suchten wiederholt Offiziere, aber auch einfache Soldaten den seit Anfang Mai leer stehenden vormaligen Führerbunker auf – Fotos dokumentieren diese Besuche. Rosengren soll dabei neben einigen anderen Devotionalien das blutverschmierte Stück Stoff an sich genommen haben, das sich an der rechten Armlehne innen befand. Wahrscheinlich saß Hitler hier, als er sich am 30. April 1945 gegen 15.30 Uhr das Leben nahm.
Channel 4 behauptet nun, durch den Vergleich der aus diesem Blut gewonnenen DNA mit den Erbinformationen von nicht genannten Hitler-Verwandten nachweisen zu können, dass es sich wirklich um Hitlers Blut handelt. Tatsächlich hatte der Diktator entfernte Verwandtschaft in den USA: die Nachfahren von William Patrick Hitler, dem Sohn von Hitlers älterem Halbbruder Alois Hitler jr. und damit Halbneffen von Adolf Hitler. Ein seltener Genmarker auf dem Y-Chromosom soll die Identifizierung sehr wahrscheinlich machen. Dafür haftet die bekannte Genetikerin Turi King von der britische Universität Leicester; sie hatte mit Untersuchungen an den sterblichen Überresten des Königs Richard III. international für Aufsehen gesorgt.
Nimmt man diese Identifikation einmal als zutreffend an, beginnen erst die Schwierigkeiten. Während es bei der Untersuchung der DNA des durch Shakespeares gleichnamiges Drama bekannten Monarchen um die Haar- und Augenfarbe sowie die Körpergröße Richards III. ging, stellen sich im (möglichen) Fall Hitlers ganz andere Fragen: Erklärt die DNA, wie seine beispiellos brutale und destruktive Herrschaft möglich war?
Wieland Giebel, der Kurator der (übrigens ebenfalls rein privat finanzierten) Ausstellung „Hitler – Wie konnte es geschehen?“ in Berlin ist da skeptisch. „Ganz egal, wie Hitlers DNA war – dadurch wird man nicht zum Kriegstreiber und Massenmörder“, sagte er WELT. Seine Ausstellung ist seit Jahren die einzige in Deutschland, die sich speziell mit der Rolle des Diktators im Dritten Reich befasst. Dass diese Frage auch 80 Jahre nach dem Selbstmord im Führerbunker viele Menschen beschäftigt, zeigt die Besucherstatistik der Berliner Museen: „Hitler – Wie konnte es geschehen“ steht dort auf dem siebten Platz – bei rund 200 verschiedenen Museen in der deutschen Hauptstadt. Die Produktion von Channel 4 sieht Giebel skeptisch: „Für mich ist das die gleiche Kategorie wie die Serie des History Channel vor einigen Jahren, die nachweisen wollte, dass Hitler nach Südamerika entkommen sei.“
Die britischen Filmemacher wollen in der (mutmaßlichen) Hitler-DNA Hinweise auf das Kallmann-Syndrom gefunden haben, eine angeborene Störung der Hodenfunktion, die rein statistisch betrachtet etwa einen von 10.000 Männern betrifft, also selten ist. Bekannt ist aus einem amtsärztlichen Untersuchungsprotokoll bei Hitlers Einlieferung in das Gefängnis Landsberg nach seinem gescheiterten Putschversuch 1923, dass er nur einen normal ausgebildeten Hoden hatte. Ob das mit dem Kallmann-Syndrom zu tun hat, bleibt zumindest vorerst Spekulation.
Ebenfalls soll die (mutmaßliche) Hitler-DNA hinweisen auf Dispositionen für drei weitere genetische Besonderheiten: Schizophrenie, Autismus und eine bipolare Störung. Teilweise befinde sich die untersuchte DNA im Bereich des einen Prozents mit der höchsten Wahrscheinlichkeit für den Ausbruch solcher Krankheiten. Allerdings bedeuten solche Werte keineswegs, dass Hitler tatsächlich unter diesen Störungen litt – das legt auch der Zweiteiler von Channel 4 offen.
Schon zu Lebzeiten des deutschen Diktators kursierten unzählige psychopathologische Deutungen seines Agierens, nach 1945 kamen Dutzende psychohistorische Studien hinzu, die meist das Papier nicht wert waren, auf das sie gedruckt wurden. Die einzige seriöse Arbeit zu diesem Thema ist das 2009 erschienene Buch „War Hitler krank?“, verfasst von dem Mediziner Hans-Joachim Neumann und dem Historiker Hendrik Eberle.
Die beiden werteten die Aufzeichnungen seines Leibarztes Theo Morell aus, sichteten alle bekannten Thesen über Hitlers Symptome und kamen zu einem klaren Ergebnis. Demnach litt der Diktator während seiner Herrschaft unter chronischen Magen-Darm-Krämpfen, die wohl psychosomatisch verursacht waren, ferner an Bluthochdruck und Koronarsklerose. Hinzu kam, ab 1943 unübersehbar, die Parkinsonsche Krankheit.
Für eine „medizinisch objektivierbare Geisteskrankheit“ bei Adolf Hitler dagegen gibt es keinerlei Hinweise. Selbstverständlich war sein Verhalten im politischen Sinne zweifellos vollkommen verrückt, und das schon seit den frühen 1920er-Jahren. Anders kann man sich seine verquere Weltanschauung aus Rassenwahn, extremem Revanchebedürfnis und der Neigung zu seinen vielfach höchst riskanten Va-banque-Spielen nicht erklären. Doch medizinisch ergibt sich daraus kein Befund, der beispielsweise auf verminderte Schuldfähigkeit schließen ließe.
Zudem bedeutet eine positive genetische Disposition für eine bestimmte Krankheit lediglich, dass sie in einem kleinen Teil der Fälle (oft fünf bis zehn Prozent) tatsächlich ausbricht. In 90 bis 95 Prozent hat eine solche genetische Prägung hingegen keine spürbare Auswirkung.
Schaut man sich nun an, was Hitlers Handeln vorrangig ausmachte (der Rassenhass, der Revanchismus und der Hang zu höchsten Risiken), so gibt es keine direkten Verbindungen zu den möglichen Krankheitsbildern. Schizophrenie oder Autismus haben keinerlei irgendwie nachweisbare Verbindung zum Antisemitismus.
Hinzu kommt: Wenn man Hitlers Reden nachliest, so wirken sie inhaltlich heute vollkommen verrückt, waren aber für viele Zeitgenossen der 1920er- und 1930er-Jahre (während des Zweiten Weltkriegs hielt Hitler kaum öffentliche Reden) anschlussfähig. Hier stößt die pathogenetische Deutung an enge Grenzen.
Eine positive Folge könnte jedoch die ansonsten weitgehend nutzlose Analyse von Hitlers DNA trotzdem haben. Nach Angaben von Channel 4 soll bei der Identifikation des Blutes festgestellt worden sein, dass der spätere Diktator keinen unehelichen jüdischen Großvater hatte. Das wurde und wird im Anschluss an Hitlers Chefjuristen Hans Frank und dessen posthum publizierten Memoiren „Im Angesicht des Galgens“ immer wieder mal behauptet.
Überprüfen lässt sich dieses gegenteilige Ergebnis der Genanalyse mit historischen Methoden zwar nicht, aber auch die seriöse Hitler-Forschung ist längst zum selben Ergebnis gekommen. Also auch keine Sensation.
Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELTGeschichte. Über Hitler hat er unter anderem die Bücher „Hitlers Berlin. Geschichte einer Hassliebe“, „Hitlers Ende im Führerbunker“ und „Mein Kampf. Die Karriere eines deutschen Buches“ veröffentlicht.
Source: welt.de