Blur: Heroen in den Wechseljahren

Es ist ein Glück in doppelter Hinsicht, was
am Anfang der Dokumentation Blur: To the End passiert. „Ich muss akzeptieren,
dass die Zeit nicht unendlich ist“, sinniert Sänger Damon Albarn am Steuer,
während der Kameramann auf dem Beifahrersitz draufhält. „Wie viel Zeit werden
wir noch haben, um unsere Geschichte erzählen zu können?“ Vollbremsung. Ein entgegenkommendes
Fahrzeug hatte eine Kurve geschnitten. Zum Glück kein Unfall. Ein Glück, solch
eine Szene. Das hätte man nicht besser timen können, findet Albarn selbst. 

Sechsunddreißig Jahre sind vergangen seit
den Anfängen der Britpop-Band, und aus diesen Jahren wurde bereits
einiges dokumentiert. Die Doku New World Towers zeigte 2015 etwa, wie es zu
ihrem ersten Reunion-Album The Magic Whip kam. No Distance Left to Run
führte 2010 die Bandgeschichte vor dem Bruch aus, und wie sie sich für die
Konzerte in Glastonbury und Hyde Park zusammenrauften. Und Starshaped erzählte 1993 ihr Leben vor dem kommerziellen Durchbruch, der ein Jahr später
mit ihrem Album Parklife eintrat.

Sänger Damon Albarn, Lead-Gitarrist Graham
Coxon, Bassist Alex James und der Drummer Dave Rowntree wissen also, wie das
geht mit dem Gefilmtwerden, dass es ein wenig Rumgealber, ein wenig
Nachdenklichkeit, ein wenig Englishness und natürlich eine
gute Bühnenshow für solch eine Band-Doku braucht. To the End bietet das alles.
Regisseur Toby L (der unter anderem auch eine Dokumentation über Liam Gallagher
von Oasis gedreht hat) will aber weder nostalgisch zurückblicken, noch
versucht er, nahbare Legenden zu zeigen. Die Doku bleibt gegenwärtig und fragt,
was aus der Bandvergangenheit nachwirkt. 

Dafür kommen die Vier an der Devon-Küste im
Süden Englands zusammen, um ihr Album The Ballad of Darren aufzunehmen, das
letztes Jahr erschien. Nach gut zehn Jahren ohne Kontakt und mit eigenen
Projekten beschäftigt – Albarn tourte mit seiner erfolgreichen Band
Gorillaz und komponierte eine chinesische Oper; Coxon produzierte Konzeptalben
und gestaltete eine Graphic Novel; Rowntree komponierte Filmmusik und arbeitete
als Rechtsanwalt; und James schöpfte Käse auf seiner Farm und lebte seine Rolle
als Vater – sitzen sie also wieder an einem Tisch, essen (sehr
englisch) Fish Pie und trinken (ganz brav) Sprudel. Gefeiert wird mit
glutenfreiem Kuchen, aber zumindest darf drinnen noch geraucht werden. Nach der
langen Pause wissen sie, was mit dem Album auf dem Spiel steht: „Es muss so gut
wie möglich werden, ansonsten sind wir nur ein Haufen alter cunts,
die versuchen, ihre Vergangenheit nochmal zu leben.“

Dass sich alle in Albarns Landhaus
einfinden, um das traurigschöne Reunion-Album aufzunehmen,
liegt aber nicht nur daran, dass Albarn der Typ am Steuer von Blur ist, sondern
weil er und seine frühere Partnerin sich nach 25 Jahren Beziehung getrennt
haben. Nun lebt er allein und die Band scheint auch für ihn zusammengekommen zu
sein, in times of crisis. Die Einsamkeit, die Trauer über den
Verlust dieser Beziehung ist Thema des Albums, und sie wird auch in der
Dokumentation immer wieder auftauchen. Sie hätten als Typen nie gelernt, über
Gefühle zu sprechen, sagt Coxon. Ein stilles Weinen Albarns wird von der Kamera
genauso aufgenommen wie die überforderten Blicke der anderen.

Von der Küste geht es dann ins Innere des
Landes, um in mittelgroßen Städten (Wolverhampton, Eastbourne) zu spielen, und
damit dann doch ein wenig in die Vergangenheit zu reisen. Es werden Archivaufnahmen
gezeigt. Die interessantesten sind dabei ein paar Szenen von Coxon und Albarn
aus ihrer Schulzeit in Colchester. Mit eindrücklicher Präsenz treten sie schon
damals in einem Musical auf. Klar sei er gemobbt worden, sagt Coxon und grinst.

Für den Film „Blur: To The End“ haben sich die Bandmitglieder tief in die Seele schauen lassen.

Wer in so jungen Jahren eine Band gründet,
die so früh so erfolgreich ist, geht einen Pakt ein, der einen in den mittleren
Jahren einholt. Die Musik bindet diese doch so unterschiedlichen Typen
aneinander und strapaziert sie, denn wenn sie weitermachen wollen, müssen sie
einander aushalten. Den jüngeren Versionen ihrer Selbst werden sie nie ganz
entkommen können, wenn sie auf der Bühne dieselben Hits spielen müssen. „Die
Leute denken, das ist, was du bist, aber das warst du vor sehr langer Zeit“,
sagt James.

Man muss kein Blur-Fan sein, um das
interessant finden zu können. Denn als Musiker der Neunziger waren sie in einem
vor Hoffnung strotzenden Jahrzehnt jung, dessen Versprechen von Liberalität,
Demokratie, Globalisierung, Informationsrevolution in der Folge so schnell und bitterlich
enttäuscht wurde. „Das Vereinigte Königreich kollabiert langsam“, sagt
Rowntree, der schon lange politisch aktiv ist und erst im Frühjahr wieder für
die Labourpartei als Parlamentskandidat antrat. Britpop gibt es nicht mehr, genauso
wenig wie Cool Britannia, und ein Brexit, acht Premierminister
und eine tote Königin später, herrscht die Sehnsucht nach dem Früher und
Reunions dieser Bands. Pulp ging letztes Jahr wieder auf Tour, und es war
die große Musiknachricht dieses Jahres, dass Blurs damalige Rivalen Oasis
kommendes Jahr wieder Konzerte geben werden. 

Nie war es einfacher als heute, auch ohne
Neues zu schaffen, von einer Masse abgekultet zu werden. Blur gehen mit ihren
Dokus und einem noch kommenden Konzertfilm ihres Wembley-Auftritts ebenfalls
den Weg der späten Selbstverwertung. Mit jeweils 90.000 Besuchern gab die Band
im Wembley-Stadion die größten Konzerte ihrer Karriere. Die Tickets dafür waren
in nur zwei Minuten ausverkauft. Albarn fragt sich, was Blur den neuen Fans,
die da kamen, wohl bedeutet. Vielleicht ist Blurs Sound dann doch alters- und zeitloser, als sie es sich selbst bewusst sind. 

Witzchen übers Alter werden aber zur Genüge
gemacht, wenn sie vor dem Auftritt Eisbäder nehmen („Wie Kokain!“) und Rowntree
sich ausgerechnet beim Tennis das Bein verletzt („Nicht gerade eine Rock ’n’ Roll-Verletzung!“). Eine Sache mussten sie sich dann aber eben doch sehr ernsthaft
abgewöhnen. „Das Saufen ist der eigentliche Grund gewesen, warum Blur kein
Vollzeitjob mehr sein konnte“, sagt James und ist sichtlich verkatert nach dem
Konzert in Barcelona. Coxon und Rowntree sind trocken. Es ist das ewige Thema
der alternden Rockstars, die dem glamourösen Nachtleben abschwören müssen, um
nicht zu Schatten ihrer Selbst zu werden.

To the End ist durchaus konventionell
gestaltet – vom Zusammenkommen zum Aufbruch über den Rückschlag zum
Triumph – und auch erfährt man nicht per se Neues über Blur. Es
braucht aber weder eine innovative Erzählweise noch kommentierende
Wegbegleiter. In jedem einzelnen Bandmitglied arbeitet es innerlich, und ihr
Zusammenkommen verstärkt die Bewusstwerdung der eigenen Vergänglichkeit. Wie
sie darüber sprechen, fängt die Kamera in feinen Beobachtungen ein.

Ja, zwar dreht sich alles weiter, aber
manches bleibt doch gleich. Da wirkt es fast wie ein Realitätsschock, wenn die
schwarze Sängerin Pauline Black der Vorband The Selecter sagt, dass für sie das
moderne Leben schon immer „rubbish“, rassistisch und sexistisch war.
„All der Müll, von dem wir dachten, wir hätten ihn entsorgt, er wird uns wieder
mit all den Trumps und Johnsons dieser Welt vor die Füße gekotzt.“ Sie
korrigiert damit ein wenig den melancholischen Ton der Männer im mittleren
Alter, denen es in den Neunzigern, diesem Jahrzehnt für weißen, männlichen Pop,
doch vor allem verdammt gut ging. 

Für Wembley holen Blur dann den London
Community Gospel Choir auf die Bühne, um Tender zu performen, während das
Publikum als „Biest mit Hunderttausend Beinen“ (wie James es nennt) zart
mitsingt. Und Coxon hält aus dem Off nur schlicht fest: „Wir können uns
glücklich schätzen.“

Es ist ein Glück in doppelter Hinsicht, was
am Anfang der Dokumentation Blur: To the End passiert. „Ich muss akzeptieren,
dass die Zeit nicht unendlich ist“, sinniert Sänger Damon Albarn am Steuer,
während der Kameramann auf dem Beifahrersitz draufhält. „Wie viel Zeit werden
wir noch haben, um unsere Geschichte erzählen zu können?“ Vollbremsung. Ein entgegenkommendes
Fahrzeug hatte eine Kurve geschnitten. Zum Glück kein Unfall. Ein Glück, solch
eine Szene. Das hätte man nicht besser timen können, findet Albarn selbst. 

Sechsunddreißig Jahre sind vergangen seit
den Anfängen der Britpop-Band, und aus diesen Jahren wurde bereits
einiges dokumentiert. Die Doku New World Towers zeigte 2015 etwa, wie es zu
ihrem ersten Reunion-Album The Magic Whip kam. No Distance Left to Run
führte 2010 die Bandgeschichte vor dem Bruch aus, und wie sie sich für die
Konzerte in Glastonbury und Hyde Park zusammenrauften. Und Starshaped erzählte 1993 ihr Leben vor dem kommerziellen Durchbruch, der ein Jahr später
mit ihrem Album Parklife eintrat.

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