Nach Donald Trumps jüngstem Schwenk in der Ukraine-Politik ist die EU zur Unterstützung der Kiewer Regierung geradezu verdammt, ohne dass die Lage auf dem Kriegsschauplatz Aussichten eröffnet, russisch besetzte Gebiete zurückzuerobern
US-Präsident Donald Trump begrüßt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus
Foto: Daniel Torok/White House/Zuma Press Wire/Imago Images
Der rasanten Meinungsschwankungen unterworfene US-Präsident Donald Trump hat ein Wendemanöver vollzogen, das für Furore in der westlichen Kriegsdebatte sorgt. Die Ukraine sei in der Lage, verlorene Territorien zurückzuholen und sich wieder mit den Grenzen von 1991 zu versehen, vorausgesetzt, sie werde konsequent mit US-Waffen für EU-Geld unterstützt, so Trump vor Tagen. Russlands Wirtschaft stehe kurz vor dem Kollaps, sein Militär sei „ein Papiertiger“. Eine „echte Militärmacht“ hätte den Krieg in einer Woche gewonnen.
Noch vor einem Monat wurde Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus empfangen, um ihm eine Ukraine-Karte mit farblich gekennzeichneten Territorien zu präsentieren, die man vorläufig für verloren hielt. Dies sollte allen Anwesenden zum Realitätscheck über die Gegebenheiten am Boden verhelfen. Die Aufforderung an Selenskyj lautete: „Gib Gebiete für Frieden.“ Es sei unmöglich, alles zurückzuerobern, waren sich Trump und Vizepräsident JD Vance einig. Kiew müsse diese Verluste hinnehmen, um den Krieg zu beenden.
Warum nun der Sinneswandel? Gesichert ist nur, dass die derzeitigen Thesen nicht viel mit den Tatsachen auf dem Kriegsschauplatz zu tun haben und einen Rückfall in westliche Denkmuster der „Game Changer“ darstellen, wonach die eine oder andere Waffe für die „richtige Armee“ den Krieg sofort dreht.
Militärmacht hängt nicht mehr zuerst von Panzern ab
Trumps Befund, eine „echte Militärmacht“ hätte innerhalb einer Woche locker die Ukraine besiegt, mag vor zehn Jahren berechtigt gewesen sein – heute nicht mehr. In Wahrheit existiert eine solche „Militärmacht“ derzeit nirgendwo. Zumindest, solange man den Einsatz von Kernwaffen ausschließt.
Der Ukrainekrieg hat die „Ära der Drohnen“ eingeläutet, womit sich die „Spielregeln“ der Kriegsführung wie auch die Kriterien militärischer Stärke radikal geändert haben. Und das unumkehrbar. Konventionelle Ansätze funktionieren nicht länger, eine Militärmacht am Boden hängt nicht mehr zuerst von Panzern, Helikoptern und Raketen ab, sondern dem Knowhow bei Drohnen.
Schwer gepanzerte Verbände im Feld oder Luftwaffen-Einheiten, die noch vor kurzem für das konventionelle Potenzial einer Armee maßgeblich waren, büßen an Bedeutung ein, wenn eine Handvoll Männer, die Drohnen steuern, ganze Schlachten entscheiden. Sturmangriffe werden von Motorradfahrern im „Mad Max“-Stil ausgeführt, statt von Panzerdivisionen, wie sie noch 2003 beim Angriff auf den Irak unter US-Kommando durch die Wüste rollten.
Man könnte Trumps Floskel zur „echten Militärmacht“ als irrelevante, rein hypothetische Gedankenspielerei abtun, wenn nicht die Ankündigung, Kiew könne und solle alle Territorien – „und vielleicht sogar mehr“ (Trump) – zurückerobern, ganz praktische und desaströse Folgen für die Ukraine hätte. Sofern der US-Präsident in zehn Tagen nicht wieder anders denkt, verheißt sein jetziges „Lagebild“ vor allem für ukrainische Männer nichts Gutes.
Damit Trumps kurzer Geduldsfaden nicht reißt, müsste Selenskyj seine Truppen zügig in neue Gegenoffensiven schicken. Tatsächlich melden US-Medien, dass die vorbereitet werden. Laut Wall Street Journal bekam Trump entsprechende Pläne vorgelegt, die durch US-Aufklärungsdaten unterstützt werden sollen. Sofern dies nur ansatzweise stimmt, droht der Ukraine ein immenser Härtetest. Offensive Handlungen sind undenkbar ohne eine massiv verschärfte Mobilmachung.
In Pokrowsk droht ein allmähliches Einkesseln
Bereits jetzt ächzt die Front unter Personalmangel. Feldkommandeure beklagen, nicht genug Männer zu haben, um die Front zu halten. An zahlreichen Abschnitten rücken russische Truppen stetig vor, teilweise sickern sie in kleiner Formation zwischen ukrainische Stellungen durch, die nicht mehr die gesamte Frontlinie abdecken können.
Im Dreieck Zaporizhya-Donbass-Dnipro haben sich russische Verbände im Dnipro-Gebiet endgültig festgesetzt und weiten das von ihnen kontrollierte Terrain aus. In Pokrowsk stehen so gut wie alle ukrainischen Versorgungstrassen unter Drohnenfeuer, so dass allmähliches Einkesseln droht. Weiter nördlich ist die Frontlinie von der Stadt Siversk bis hoch nach Kupyansk in Bewegung, wo es bereits Straßenkämpfe mitten in der Stadt gibt. Russische Truppen übernahmen den lang umkämpften „Silberwald“ und erreichen dank FPV-Drohnen die strategisch wichtige Izjum-Slavjansk-Trasse.
Wenn es in diesen Regionen Gegenstöße geben soll, wäre eine drakonische Zwangsmobilisierung Hunderttausender (!) junger Männer unvermeidlich. Wie die kriegsmüde ukrainische Gesellschaft darauf reagieren würde, ist absehbar. Eine neue Migrationswelle Richtung Westen, vor allem nach Deutschland, wäre nicht auszuschließen.
In der russischen Kriegsdebatte führen Trumps teils kuriose Äußerungen vorrangig zu zwei Reaktionen. Der auflagenstarke russische „Fighterbomber“-Kanal konstatiert nüchtern, dass inzwischen „selbst Andeutungen auf Friedensverhandlungen fast vollständig verschwunden“ seien. Für die russische Armee heiße das: „Wir können uns in Ruhe auf unsere Winteroffensive vorbereiten.“
Andere wie der Kriegsreporter „Elder Eddas“ fokussieren sich dagegen auf die politische Seite von Trumps Aussagen. Die seien nicht aus militärischer Sicht zu deuten, sondern als medienpolitischer Schachzug, um im Idealfall den Kreml an den Verhandlungstisch zu zwingen. Und falls dies nicht gelingt, könnte sich die Trump-Regierung endgültig als politischer Akteur aus dem Ukrainekrieg herausziehen und nur noch den gutbezahlten Lieferanten spielen, wenn „bis zum letzten Euro“ mit US-Waffen gekämpft wird.
Die Verantwortung, wie das ausgeht, wäre somit auf Kiew und Brüssel abgeschoben. Man hätte den Krieg ja gewinnen können, wenn die Ukrainer härter gekämpft und die EU bei uns genug eingekauft hätte, so der Subtext der neuen Leitlinie in Washington.