„Shoppen wie ein Milliardär.“ Mit diesem Slogan wirbt die chinesische Onlineverkaufsplattform Temu offensiv um Kundschaft. Das Geschäftsmodell basiert darauf, dass Produkte wie Elektronik, Werkzeug oder Textilien über eine attraktiv gestaltete Smartphone-App zu besonders günstigen Preisen angeboten werden. Den Kaufvertrag schließt der Kunde direkt mit dem Verkäufer des Produkts ab. Die Onlineplattform dient lediglich als Marktplatz.
Nicht in Einklang mit EU-Regeln
Seit Einführung des Smartphones werden Dienstleistungen und Produkte erfolgreich über Onlineplattformen vermittelt. Problematisch werden diese Geschäftsmodelle, wenn die Vertriebsstruktur mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und der EU nicht mehr in Einklang steht. Dies lässt sich aktuell bei einigen der stark wachsenden Onlineverkaufsplattformen beobachten, die sich auf die Vermittlung besonders preisgünstiger Produkte fokussieren und deren Verkäufer meist außerhalb Europas ansässig sind.
Die Art und Weise, wie diese Plattformen auf Kundenfang gehen, entspricht häufig nicht den hier geltenden Anforderungen. Insbesondere manipulative Designs wie „Beeile dich! Über 126 Personen haben diesen Artikel in ihrem Warenkorb“ (sogenannte Dark Patterns) haben bereits zu zahlreichen Abmahnungen der betroffenen Plattformen durch die Verbraucherzentralen geführt.
Risiken bis zum Stromschlag festgestellt
Vor allem aber gelangen über diese Plattformen jedes Jahr Millionen von Produkten nach Europa, die den gesetzlichen Anforderungen an die Produktsicherheit und die Umweltverträglichkeit nicht entsprechen. Spielwaren, Schuhe und Bekleidung wiesen bei Testkäufen gefährliche und in der EU verbotene Schadstoffe auf. Bei elektronischen Produkten wie Heizlüftern wurden Risiken von Stromschlag festgestellt.
Schaden droht damit nicht nur Verbrauchern. Die großvolumige Einfuhr nicht konformer Produkte und ihre Bewerbung mit irreführenden Mitteln schadet unmittelbar Handel und Industrie in Europa. Denn sie müssen in der EU umfangreiche Anforderungen an die Verkehrsfähigkeit von Produkten befolgen und unterliegen der ständigen Kontrolle durch die europäischen Behörden. Händler auf den Verkaufsplattformen haben diesen Druck nicht. Denn das EU-Produktrecht erfasst den Direktimport von Produkten aus Fernost durch Verbraucher über Onlineverkaufsplattformen nur rudimentär.
Grundsätzlich sind sich Industrie, Handel und Behörden weitgehend einig: Die Spielregeln für den Vertrieb von Produkten in der EU müssen für alle gleichermaßen gelten. Zwar hat der europäische Gesetzgeber zuletzt einiges getan, um Sicherheit und Rechtskonformität online gehandelter Produkte zu erhöhen. Die aktuelle Situation zeigt indes, dass der massenhaften Einfuhr nicht gesetzeskonformer Produkte bislang nicht effektiv genug entgegengewirkt wird.
Die seit Juli 2021 geltende europäische Marktüberwachungsverordnung legt zwar fest, dass viele Produkte in Europa nur vertrieben werden dürfen, wenn es in der EU eine Person gibt, die für das Produkt verantwortlich ist. In der Praxis kommen allerdings unzählige Produkte auf den europäischen Markt, für die es eine solche Person nicht gibt, weil die vom Verkäufer angegebenen Kontaktdaten schlicht nicht existieren.
Onlineverkaufsplattformen sind zwar verpflichtet, Produkte von der Plattform zu nehmen, wenn ihnen bekannt wird, dass die Ware nicht den Vorschriften entspricht. Einer allgemeinen Verpflichtung zur Gewährleistung der Product Compliance unterliegen die Produkte jedoch nicht. Dieses sogenannte Providerprivileg hat das Entstehen innovativer Plattformmodelle überhaupt erst ermöglicht. Das Konzept stößt jedoch wegen der mittlerweile enorm breiten Produktpalette der neuen Plattformen an seine Grenzen.
Der Blick richtet sich vor allem auf Regelungen des Digital Services Act (DSA). Die EU-Verordnung statuiert eine Reihe spezifischer und nach Art und Größe abgestufter Pflichten für die Betreiber von Onlineplattformen. Dazu gehört vor allem die Pflicht zur Identifikation gewerblicher Händler, zur stichprobenartigen Prüfung der Konformität der angebotenen Produkte sowie zur Sperrung von Händlern, die häufig offensichtlich rechtswidrige Produkte anbieten. Sehr große Onlineverkaufsplattformen, zu denen auch Temu und Shein gehören, müssen überdies spezifische Maßnahmen zur Minimierung von Risiken entwickeln, die sich aus ihrem Geschäftsmodell ergeben. Die EU-Kommission hat Temu unter anderem aufgegeben, bis Ende September alle systemischen Risiken, die sich aus seinen Diensten ergeben, ordnungsgemäß zu bewerten und zu verringern. Dazu gehören die Listung und der Verkauf von gefälschten Waren, unsicheren oder illegalen Produkten und Gegenständen, die Rechte an geistigem Eigentum verletzen.
Der EU-Kommission steht nach dem DSA ein umfangreiches Instrumentarium an Ermittlungs- und Durchsetzungsbefugnissen zur Verfügung, um gleiche Wettbewerbsbedingungen sicherzustellen. Bei Verstößen können empfindliche Bußgelder in Höhe von bis zu 6 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes verhängt werden. Bei massiven und fortdauernden Verstößen kann die Kommission außerdem erwirken, dass der Zugang zur Plattform gesperrt wird.
Um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten, müssen die neuen Regelungen des DSA von den nationalen Behörden und von der EU-Kommission konsequent angewandt werden. Sollte das nicht ausreichen, um dem massenhaften Vertrieb gefährlicher Produkte in der EU effektiv entgegenzuwirken, muss über weitere Regulierung nachgedacht werden. Denkbar wäre, die Verkaufsplattformen als Wirtschaftsakteure einzustufen, die von den europäischen Behörden ähnlich wie Einführer in die Verantwortung genommen werden können, falls in der EU keine verantwortliche Person greifbar ist.
Die Autoren sind Partner bei der Rechtsanwaltskanzlei Noerr.