Beziehung zu China: Risiko China

Wer heute über China spricht, braucht dafür eine eigene Sprache: von Diversifizierung ist die Rede, Deglobalisierung, Decoupling, Derisking. Diese Worte bilden das Verhältnis zu China ab. Diversifizierung ist eher harmlos – dann baut man eben eine Fabrik mehr in Vietnam, um viele Produktionsstandorte zu haben. Decoupling, bewusst falsch verstanden als die komplette Entkopplung von China, ist das Horrorszenario. Allerdings hat niemand in Deutschland je etwas Derartiges gefordert. Seit dem Frühjahr hat sich als Kompromissbegriff Derisking durchgesetzt, also Risikominimierung.

Aber was heißt das überhaupt? 

Wenn man das bloß wüsste! Worauf sich alle einigen können: Derisking ist nicht Decoupling. Doch es bleiben 100 verschiedenen Arten, das Wort zu interpretieren. Es wurde von Ursula von der Leyen ins Spiel gebracht, um sich aus der Decoupling-Debatte zu befreien und gleichzeitig Macrons China-Annäherung zu entkommen. Kurz darauf griff es Annalena Baerbock während ihrer Reise nach Peking auf, seither gebraucht es sogar der Kanzler selbst. Es spielt eine Schlüsselrolle in einer europäischen China-Strategie und tauchte kürzlich im Abschlusskommuniqué der G7 in Japan auf.

Das Wort ist gesetzt. Nun muss geklärt werden, was es eigentlich bedeutet, wenn Risiken minimiert werden sollen. Die China-Show, die diese Woche in Berlin zu beobachten war, hat dabei nicht geholfen. Da trafen sich der Kanzler und die Minister der Bundesregierung mit ihren chinesischen Kollegen und dem Premier, schüttelten Hände – und ließen auf der gemeinsamen Pressekonferenz keine Fragen von anwesenden Journalistinnen und Journalisten zu. Die hätten vielleicht nachgehakt, wie es sein kann, dass man sich in großer Einigkeit trifft, während erst vor einem Monat Finanzminister Christian Lindner aus China ausgeladen wurde. Da waren ausgerechnet die Vertreter der großen Automobilkonzerne sowie Siemens, um auf der Bühne Kooperationsabkommen zu unterzeichnen, dabei investieren sie bereits wie kaum ein anderer deutscher Konzern in China. Dann ging es weiter nach München, Markus Söder und Vertreter von Siemens und BMW treffen, feierliches Abendessen inklusive.  

Fast wirkte es wie ein Flashback in die Merkeljahre, als man sich noch einredete, China ließe sich durch Dialogformate in einen Partner verwandeln. Zu diesem Zweck wurden die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen ins Leben gerufen – eine Ehre, die eigentlich für besonders wichtige und wohlgesonnene Partner vorgesehen ist und die manche China-Expertinnen in Deutschland seit Jahren für einen großen Fehler halten.  

Mit Russlands erneutem Überfall auf die Ukraine setzte nach dem 24. Februar 2022 das große Umdenken ein, halbgare Aufarbeitung, wie „wir“ uns denn so irren konnten, die Zeitenwende wurde ausgerufen. Damit stellte sich aber auch indirekt eine andere Frage: Wenn der Wandel durch Handel mit Russland krachend gescheitert war, wenn trotz all der Dialoge, gegenseitigen Besuche, wirtschaftlichen Abhängigkeiten sich eine Autokratie vollends zu einer Diktatur entwickelt und Krieg führt, ja, was heißt das dann für den Umgang mit China? Deshalb war das Schauspiel in Berlin so ernüchternd. 

Lächelnder Kanzler

Nicht falsch verstehen: China ist nicht Russland, Wladimir Putin nicht Xi Jinping, Taiwan nicht die Ostukraine. Und niemand in Deutschland hat je ernsthaft dafür gekämpft, sich von China zu entkoppeln – das wäre auch gar nicht möglich. Während die Deutschen vor allem vom russischen Gas und Öl abhängig waren, hängen sie in den meisten wichtigen Bereichen von China ab: medizinische Vorprodukte, seltene Erden, Halbleiter, Chips, Hightech. China ist der größte Handelspartner für die Deutschen, eine Entkopplung käme einer Selbstschrumpfung gleich, hinzu kommen Klimafragen, die sich nicht lösen lassen, ohne ein aufsteigendes Land mit mehr als einer Milliarde Menschen einzubinden.   

Was also kann in diesem Verhältnis Risikominderung bedeuten? Man müsste darüber reden, welche Abhängigkeiten der deutsche Staat hinnehmen will und welche nicht: Die großen Autokonzerne und BASF sind jetzt schon für die Hälfte aller europäischen Direktinvestitionen in China verantwortlich und sie wollen noch viel mehr investieren – eine hochriskante Wette auf die Zukunft. Was, wenn BASF trotz aller Warnungen Rekordsummen in China steckt und die Regierung dann doch entscheidet, Taiwan militärisch anzugreifen? Welches Zeichen sendet es, wenn genau diese Konzerne, deren Abhängigkeit vom chinesischen Markt wächst und wächst und wächst, unter den Augen des Kanzlers Kooperationsabkommen unterzeichnen?  Anders gesagt: Wie soll man über Derisking reden, wenn erst mal das Risking mit lächelndem Kanzler zelebriert wird?   

Es ist nicht so, als würde man stumpf weitermachen wie bisher. In den großen Fragen sind sich Kanzleramt, Auswärtiges Amt, ja, eigentlich alle Parteien (außer AfD und Linke), die mittlerweile Strategiepapiere zum Umgang mit China vorgelegt haben, einig – und das Wirtschaftsministerium hat bereits hier und da korrigiert: Staatliche Garantien für Investitionen in China wurden begrenzt.  

Geheimer Strategieentwurf

Doch es geht um mehr als eine wirtschaftliche Risiko-Vermeidungsstrategie. „Wir können uns nicht langfristig hinter einem recht schwammigen Derisking-Begriff verstecken, sondern müssen ausbuchstabieren, was in der Beziehung zu Peking ab jetzt anders laufen muss“, sagt die China-Expertin Janka Oertel vom European Council on Foreign Relations. „Wir dürfen uns nicht länger unter Wert verkaufen.“  

Im ersten, noch sehr rohen Entwurf der deutschen China-Strategie, einem Prestigeprojekt von Außenministerin Annalena Baerbock, war zumindest der Versuch zu erkennen, politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Abhängigkeiten zu benennen. Doch dieser Entwurf, so heißt es, wurde auf Wunsch des Kanzleramts deutlich abgeschwächt und das Licht der Öffentlichkeit hat er auch noch nicht erblickt: Lieber wollte man erst das Treffen mit den Chinesen in Berlin abwarten. Die bekamen ihre Bilder, auf die sie gesetzt haben. 

Da passte es, dass zeitgleich zu den Regierungskonsultationen am Montag die chinesische Firma Cosco den Kauf eines Minderheitsanteils an einem Hamburger Hafenterminal besiegelt hat. Mehrere Bundesministerien hatten diese Beteiligung als potenzielles Risiko eingestuft. Doch das Kanzleramt setzte sich darüber hinweg. Infrastruktur, die als kritisch gilt, wird also an chinesische Staatsfirmen verkauft. Dazu die freundlichen Bilder aus Berlin: Nach Derisking sah das eher nicht aus.

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