Berlin Art Week gen Insta: Lieber rein in die Galerien!

Wie sehr kann man da sein, wenn man nicht da ist? Und muss man mit Kunst in einem Raum sein, um ihre Themen zu verstehen? Die diesjährige Berlin Art Week musste ich mir aus verschiedenen Gründen kuratieren lassen. Von unzähligen bekannten und unbekannten Social-Media-Accounts. Und da sehe ich Menschen in sehr ausgewählten Kleidern, ich sehe Fleisch in den sogenannten Promi-Restaurants, ich sehe Discokugeln im Garten, ich sehe die bewegten und bunten Visuals an den Wänden des Studio 1111, das gleich mehrfach als Kunst-Partylocation diente. Ich sehe Preisträgerinnen, ich sehe natürlich ständig Klaus Biesenbach. Ich sehe Proteste gegen den CDU-Kultursenator Joe Chialo, die er nur verunsichert belächeln kann. Ich sehe Menschen in Mad-Max-Kostümen tanzen, ach, nein, falscher Kanal, das ist nicht die Berliner Art Week, das ist das Burning-Man-Festival in Kalifornien.

Ich lese das offizielle Post-Art-Week-Statement der Veranstalter. Über 130.000 Besucherinnen und Besucher an 100 Veranstaltungsorten bei 300 Events. Auf Instagram sieht das sogar nach noch mehr aus. Bei The Gen Z Art Critic lese ich hingegen, dass sich Berlin in einem Jahr von „hero to zero“ entwickelt habe und sich die Art Week von der Kunstmesse viennacontemporary das Spotlight habe stehlen lassen, aber das kann ich von meinem Telefon aus nicht bestätigen. Dafür, dass Berlin seit Jahren schon nicht mehr cool ist, sah es doch schon vielversprechend aus durch die Linsen der Menschen hinter ihren Bildschirmen.

Rirkrit Tiravanijas Suppenküche im Gropius Bau und Tischtennisplatten

Alle cuten Gays waten bei Dittrich & Schlechtriem durch die Schauminstallation von Harry Nuriev, dem New Yorker/Pariser Designer/Architekten/Konzeptualisten, der in der Galerie seine erste Solo-Schau in Berlin zeigt. In den unter der Erde liegenden Räumen sieht man einen Papiertuchspender, was natürlich irgendwie an Masturbation erinnert. Nur kommt statt der Abwischtücher Schaum-Sperma da raus, und in den Videos sieht man Kinder, die darin baden. Großartig!

In anderen Videos sehe ich die Suppenküche von Rirkrit Tiravanija im Gropius Bau beziehungsweise eigentlich nur eine Schlange und Menschen an Tischtennisplatten. Emma Adlers Ausstellung bei Anton Janizewski sieht ein bisschen aus wie eine Gruselbahn der deutschen Angst.

Und es wurde wieder viel getanzt. Mal halb nackt, mal verkleidet, mal Selbsthilfe-Hobby-Tanzgruppen-mäßig. Göksu Kunak in den Sophiensaelen, Alexandra Pirici im Hamburger Bahnhof, junge Leute in der Nationalgalerie, die auf Instagram nicht getaggt wurden und somit nicht existieren. Die Neue Nationalgalerie schuf ja eine Menge Reel-Content, mit Nebel und Fahnenträgern, der Saxofonist Bendik Giske steht auf dem Dach, es gibt Feuerwerk und Menschen, die aussehen, als würden sie schon wieder die gleiche Kollektion von Balenciaga vorstellen.

Die Berlin Art Week ist 2024 auch die Schau der großen Namen: Sigmar Polke im Schinkel Pavillon, Rebecca Horn bei Thomas Schulte, nur wenige Tage nach ihrem Tod, Valie Export bei Suite Berlin, Rosemarie Trockel bei CCA – sowieso CCA: Der Kunstort von Fabian Schöneich scheint der derzeitige Darling zu sein. Gezeigt wird unter anderem Nazanin Noori. In einem Text zu der Ausstellung im ehemaligen Café Kranzler am Kurfürstendamm heißt es: „In einer Zeit, in der globale Revolutionen (…) zu mundgerechten Reels und im Fernsehen gezeigten Fragmenten von Leid und Hoffnung reduziert werden, zerfällt die viszerale Realität eines Protestes in virtuelle Spektakel, die ein Gefühl der Distanz und Gefühllosigkeit hervorrufen.“

Und das passt ja zur Kunstwoche auf Instagram – nichts lässt einen mehr Leere und Traurigkeit, mehr Entrücktheit von der Welt fühlen als dieser Kanal. Also rein in die Galerien!

Kunsttagebuch

Laura Ewert ist Kunst-Kolumnistin für der Freitag. Sie schreibt als freie Autorin und Journalistin für Zeit, Monopol, Spiegel Online, Focus Magazin und viele andere. Als Kritikerin bespricht sie Kunst und Musik im Deutschlandradio oder Deutschlandfunk Kultur

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