Beethovens neunte Sinfonie ist Menschheits-Musik, die mit Schillers „Ode an die Freude“ die ganze Welt umarmt. 1972 wurde die Neunte vom Europarat zur Europahymne erkoren, 1985 zur Hymne der Europäischen Gemeinschaft ernannt. Am 7. Mai 1824 wurde sie in Wien uraufgeführt und wird somit heute 200 Jahre alt. Die Neunte ist gleichsam Antiquität sowie fester Bestandteil der Alltagskultur: vom „White Album“ der Beatles (1968) bis zum Stanley-Kubrick-Film „A Clockwork Orange“ (1971).
Die 74 Minuten, die Dirigent Wilhelm Furtwängler für seine Version der Neunten brauchte, wurden später sogar zum Maß für die Speichergröße einer CD. Zum Jubiläum begibt ARTE sich nun auf eine europäische Spurensuche: Am 7. Mai werden Orchester aus Deutschland, Italien, Frankreich und Österreich – im Leipziger Gewandhaus, in der Philharmonie de Paris, der Mailänder Scala und im Wiener Konzerthaus – je einen Satz dieses Meisterwerks interpretieren. Das „ARTE Magazin“ reist in vier Sätzen mit Beethoven durch Europa.
Beethoven und Deutschland
Friedlicher Protest, Demonstrationen und „Wir sind das Volk!“-Rufe: Die Freiheitsbewegung in der DDR begann 1989 in flottem Tempo – musikalisch gesprochen könnte man sagen: im Allegro ma non troppo – und nahm unaufhaltsam an Fahrt auf. So wie der erste Satz der Neunten. Am Ende stand der Chefdirigent des Leipziger Gewandhausorchesters, Kurt Masur, im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt am Pult und dirigierte den letzten Akt eines abgewickelten Staates.
Am 2. Oktober 1990 wurde die DDR mit Beethovens Musik zu Grabe getragen. Bereits am Weihnachtstag im Jahr 1989 hatte Leonard Bernstein die Vereinigung von Ost und West mit dem gleichen Werk gefeiert, als er Musikerinnen und Musiker aus München, Paris, London, New York und Leningrad dirigierte. Den Schiller-Text wandelte er um in: „Freiheit, schöner Götterfunken“ – Beethoven als Überwindung des Kalten Krieges.
Deutsche Geschichte
Beethovens letzte Sinfonie hat Deutschland seit jeher vereint: Die gesamtdeutsche Olympiamannschaft war zwischen 1956 und 1964 mit den Klängen der Neunten angetreten. Und die Teilung Deutschlands hatte selbst das Autograf der Sinfonie zerrissen: Ein Teil der Beethoven-Handschrift lag über mehrere Jahrzehnte im Westen, der andere wurde der DDR von Polen übergeben. Erst mit der Vereinigung wurden beide Teile in der Staatsbibliothek in Berlin vereint.
Kaum ein anderes Werk hat die deutsche Musikgeschichte derart beeinflusst wie die Neunte. Beethoven widmete sie „in höchster Ehrfurcht“ Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Richard Wagner schwärmte, die Neunte sei „eine Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft“.
Wenn das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons in Leipzig nun in der ARTE-Übertragung die 600 Takte des ersten Satzes spielt, knüpfen sie damit auch an eine lokale Tradition an: Bereits 1918, zum ersten Jahreswechsel nach dem Ersten Weltkrieg, begründete Dirigent Arthur Nikisch den Brauch, Beethovens Neunte zu Silvester zu spielen – als Ode an den Frieden. Ein Neujahrs-Ritual, das bis heute besteht.
Beethoven und Frankreich
In der Generalpause im zweiten Satz der 9. Sinfonie hielt es das Publikum der Uraufführung nicht auf den Sitzen: Die Menschen jubelten und applaudierten – und das Orchester musste erneut beginnen. Das bewegte Scherzo, das Beethoven hier anstimmt, könnte sein tänzerisches Verhältnis zu Frankreich charakterisieren.
Immer wieder schaute er über den Rhein: Seine Missa solemnis schickte er dem französischen König, der „Fidelio“ steht in der Tradition der französischen Rettungsoper, und die Kompositionen „Egmont“ und „Coriolan“ setzen sich mit den Umbrüchen in Frankreich, mit Tyrannei und Freiheitskampf auseinander. Genau verfolgte Beethoven die Weltpolitik des jungen Napoleon, widmete ihm sogar seine dritte Sinfonie, die „Eroica“, nannte den Korsen einen „Prometheus“, einen Licht- und Freiheitsbringer.
Macrons musikalisches Statement
Doch als die Kriege Frankreichs blutiger wurden und Napoleon sich zum Kaiser krönte, wich Beethovens Bewunderung seinen humanistischen Zweifeln. Bereits als Schüler in Bonn war Beethoven durch den Franziskanerpriester Eulogius Schneider geprägt worden, der schließlich als Jakobiner und Chefankläger des Revolutionstribunals in Paris selbst Opfer der Guillotine wurde.
So skeptisch Beethoven am Ende seines Lebens nach Frankreich blickte, so sehr wurde er von Frankreichs Komponisten verehrt: Berlioz studierte und kommentierte seine Werke genau; und Frankreichs Orchester intonierten Beethovens fünfte Sinfonie gern als „symphonische Marseillaise“. Als Emmanuel Macron sich 2017 gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen durchsetzte und mit 39 Jahren zum jüngsten Präsidenten Frankreichs gewählt wurde, trat er zu den Klängen von Beethovens „Ode an die Freude“ vor seine Anhänger.
Die Europahymne im großen Innenhof des Louvre wurde zum perfekt inszenierten Bekenntnis zu einem Kontinent der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Ein Geist, den auch das Orchestre de Paris unter Klaus Mäkelä sendet, wenn es aus der Pariser Philharmonie den zweiten Satz der Neunten interpretiert.
Beethoven und Italien
Im dritten Satz dringen – ganz langsam – Licht und Luft in die neunte Sinfonie. Die Instrumente setzen ein, eines nach dem anderen. Alles sucht Atem und singt in großem Bogen. Langsam schimmert das Thema der Freiheit durch. Die musikalische Lichtsetzung erinnert an Beethovens italienische Vorbilder, die ihn seit seiner Jugend prägen. Schon als junger Bratscher der Bonner Hofkapelle spielte Beethoven nach Anweisungen des Kapellmeisters Andrea Lucchesi aus Venedig.
Auch seinen letzten regulären Unterricht erhielt er in Wien von einem der damals wohl bekanntesten Komponisten Italiens, dem Kapellmeister der kaiserlichen Hofkapelle: Antonio Salieri. Salieri lehrte Beethoven besonders die Vertonung italienischer Texte. Beethovens Wien war Reiseziel internationaler Künstler. 1822 besuchte ihn der italienische Komponist und Lebemann Gioachino Rossini. Er bewunderte Beethoven, aber noch mehr liebte er Pasta und la dolce vita.
Um so bestürzter war Rossini über den grübelnden Kollegen, den er in seiner bescheidenen, düsteren und unaufgeräumten Wohnung in der Wiener Landstraße aufsuchte. Rossini schrieb später über diese Begegnung: „Aber was kein Stift ausdrücken könnte, ist die undefinierbare Traurigkeit, die in allen seinen Zügen lag.“ Auch Giuseppe Verdi sollte mit Beethoven hadern, fand das Finale der Neunten schlicht und einfach: „schlecht gesetzt“.
Längst ist Beethoven auch in Italien zu Hause, besonders beim Orchester der Mailänder Scala. Die Oper wird derzeit vom Franzosen Dominique Meyer geführt, der Italiener Riccardo Chailly, der lange das Gewandhausorchester in Leipzig geleitet hat, dirigiert den dritten Satz der Sinfonie. Am Ende durchweht ein tristes Piano die Musik, bis die Fanfare zum großen Finale erklingt.
Beethoven und Österreich, 7. Mai 1824 im Theater am Kärntnertor: Ludwig van Beethoven konnte nur noch dumpfen Klang hören, seine Augen klebten an den Lippen des Chors, und als der letzte der 940 Takte des vierten Satzes verklungen war, tobte das Publikum. Dirigent Michael Umlauf fasste den Komponisten auf die Schulter und drehte ihn zum Saal. Nun konnte Beethoven sehen, dass es richtig war, sich – trotz eigener Zweifel – für das Chor-Finale entschieden zu haben. Die Uraufführung seiner Neunten war ein gigantischer Erfolg.
In seinen letzten Wiener Jahren tauchte Beethoven immer tiefer in die Musik ab. Sein Hörvermögen versagte, reisen wollte er nicht mehr. Geplante Auftritte in London fanden nie statt, und der immer komplexe Klang wurde zu seiner eigentlichen Welt. Neben der revolutionären Neunten entstanden die Missa solemnis, die letzten Sonaten und Streichquartette.
Zukunftsmusiken! 35 Jahre lang lebte Beethoven in Wien, mehr als sechzigmal ist er hier umgezogen. In der Natur von Heiligenstadt notierte er sein bewegendes Testament, er veranstaltete Akademien für den Wiener Kongress – und in Wien liegt er begraben. In einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof: Gruppe 32 A, Nr. 29.
In Österreich lebt Beethoven auch weiter, egal, ob im Austro-Pop von Kurt Sowinetz, der sang „Alle Menschen san ma zwider“, oder in den regelmäßigen, energiegeladenen Aufführungen der Wiener Symphoniker im Wiener Konzerthaus. Das Orchester bestreitet das Finale dieses europäischen Konzert- und Fernsehabends, am Pult steht die Chefdirigentin des Berliner Konzerthausorchesters: Joana Mallwitz.
Der Text erschien in der Mai-Ausgabe des ARTE-Magazins. „Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 9 Leipzig, Paris, Mailand, Wien“, TV-Ausstrahlung am Dienstag, 7. Mai um 21:35 Uhr auf ARTE.
Source: welt.de