Basis | Mehr denn Robert Habecks Wahlkampfkulisse: 10 Fakten zum Küchentisch

A

wie Aschenbecher

Meine WG-Küchentische: Brachiale orgiastische Kochereignisse, nicht endende Beziehungsgespräche und Politbeben sondergleichen. Eine Katze, der die Pasta-Sauce mehr war als das billige Katzenfutter (und sie verging sich dennoch an kleinen Vögeln!). Ein frühmorgens im Aschenbecher auf dem Küchentisch hinterlassener Tampon (mehr dazu nicht!). Alice, Christine oder wie du hießest, was ist eigentlich aus dir geworden? Und dann noch das ausgebreitete Innenleben eines VW-Motors (ölig und nicht genussfähig). Es wurde viel gefeiert (bis die Polizei kam). Noch viel mehr gestritten (wer hat schon wieder die Butter auf dem Tisch ranzig werden lassen?). Und es trennte sich an diesen Tischen mit hoch-heiligem Ernst und viel Emotion, was politisch einfach nicht mehr zusammenpasste – schneller und rigoroser als die Ampel, der wir die Legalisierung von Cannabis verdanken. Hätten sie mal ein bisschen geraucht zusammen! An späteren Küchentischen ging’s dann nur noch um den Abwasch. Ulrike Baureithel

B

wie Biolek

Die besten Partys beginnen und enden in der Küche. Perfektioniert hat dieses Prinzip der große Meister des guten Gesprächs – Alfred Biolek. Oft gescholten, er sei mit seinen Gästen viel zu lax umgegangen. Doch dieser distinguierte Herr, der sich selbst als Rotwein charakterisierte und erst im Alter zu bester Form auflief, wollte gar keine Interviews führen – sondern Gespräche. Und so sagten seine Gäste oft mehr, als sie es normalerweise taten, und kamen, wie im Fall Helmut Kohl, überhaupt erst in eine Talkshow. Trainiert hat Alfred Biolek seinen späteren Beruf in seinen Wohnungen, wenn er dort in geselliger Runde kochte und redete. Der Küchentisch, das Epizentrum des gemeinsamen Seins (→ Ekel Alfred), war für Biolek so wichtig, dass er sich ein Stück davon in einen Siegelring fassen ließ, den er bis zu seinem Lebensende 2021 getragen hat. Jan C. Behmann

D

wie Durchreiche

Schöner wohnen hieß einmal, in Villen und 200-qm-Wohnungen fürs Speisen das Speisezimmer, fürs Chillen oder Politisieren den Salon zu haben. Am Küchentisch saßen nur die Köchin, das Dienstmädchen und der Gärtner. Noch in Bauhaus-Bauten auf Minimalgrundriss wie dem Haus am Horn in Weimar gab es ein Zimmer mit Esstisch. Auch in DDR-Plattenbauten war der Küchentisch ins Wohnzimmer verbannt, im Typ P2 gleich an die „Durchreiche“ von und zur Küche, in der nur bevorratet, gekocht und aufgewaschen wird. Den Tisch decken und abräumen, ohne einen Schritt zu tun, so war’s gedacht. Im wirklichen Leben diente die verglaste Durchreiche oft als kleines Regal für Dekoratives. Oder dazu, bei der Küchenarbeit ab und an einen Blick auf den Fernseher zu werfen. Eine Möglichkeit für Wohnküchen mit Küchentisch im Plattenbau entwarf der Westberliner Architekt Hinrich Baller 1987 in Dessau: 6 x 6 Meter große Flächen, addierbar zu größeren Einheiten, die frei eingerichtet werden konnten. Michael Suckow

E

wie Ekel Alfred

In der Kultserie Ein Herz und eine Seele aus den 1970ern stellt der Küchentisch einen zentralen Ort des Geschehens dar. Von ihm aus pendeln die Familienmitglieder immer wieder ins Wohnzimmer und kehren dann zu ihm zurück. In der ersten Folge kommt Ekel Alfred, Oberhaupt der Familie Tetzlaff, nach Hause. Er findet die Küche verwaist, den Tisch ungedeckt und den Kühlschrank leer vor. Alfred wird ungehalten. Am Küchentisch kommen die Tetzlaffs zusammen, hier wird der Schwiegersohn als Kommunist gemaßregelt und Essen zubereitet. Einmal versucht Alfred zu kochen, belehrt über mehrere Kochbücher gebeugt seine Frau, Rotkohl werde gehobelt, nicht geschnitten. Um dann die gesamte Küche zu verwüsten. Die Folge um den hochprozentigen Silvesterpunsch – es ist nur Rum drin – wird jedes Jahresende wiederholt. Tobias Prüwer

F

wie Film

In der Unterhaltungswelt des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und geförderten Films ist der Küchentisch eine feste Konstante. Er muss großfamiliengroß und aus Holz sein. Rund um ihn gibt es immer wahnsinnig viel zu lachen, zu weinen und zu versöhnen. Es kommt alles, klar, auf den Tisch, gnadenlos sozialpädagogisch durchbuchstabiert, wird kein Problem von Ratschlägen verschont. Er dient auch als Unterlage für Sex,
jedoch nur zwischen jungen Menschen, die sich die Kleider vom Leib reißen (er stehend, sie auf ihm oder der Nobelküchenzeile sitzend) – natürlich nur angedeutet, nie ohne Orgasmus (unsichtbar), stets wundervoll und unkompliziert: Er kann immer, sie will immer. Hinter dem Küchentisch geht der Blick auf malerische Berge oder Küstenlandschaften, Hauptsache malerisch, Hauptsache so, wie es in 99,999999 Prozent der Fälle nicht aussieht. Der gefilmte Küchentisch (→ Zuhörtour), anders als im echten Leben, verweigert jede Diversi- oder Kreativität. Für die Kamera taugt er nur zum Festklammern an ausgeleierten Konzepten.

K

wie Küchenkabinett

Lion Feuchtwanger hat die Runde am Küchentisch mit literarischen Weihen versehen. In seinem Roman Die Geschwister Oppermann (1933) kommt eine illustre Geburtstagsrunde überein, kurz vor Mitternacht ein „Küchenkabinett“ zu bilden. Man schreibt den 6. November 1932. Punkt 0:00 Uhr wird der Reichsrundfunk das Ergebnis der Reichstagswahl bekanntgeben. Das Küchenkabinett ist auf das Schlimmste gefasst, den Durchmarsch der NSDAP und einen Kanzler Adolf Hitler. Doch dann wird vermeldet, dass die Nazis zwei Millionen Stimmen verloren haben. Beim Familienpatriarchen, dem Schriftsteller Gustav Oppermann, seinen Brüdern, dem Unternehmer Martin Oppermann und dem Chirurgen Edgar Oppermann, schwelt Hoffnung. Eine jüdische Familie in Berlin glaubt, dem Abgrund entronnen zu sein. Vorerst, wie sich herausstellt. Dieses Küchenkabinett hat seine Nacht, es ist nur diese eine Nacht. Ein Jahr später wird Gustav im KZ, Martin enteignet und Edgar im Exil sein. Lutz Herden

M

wie Monopoly

Egal ob in der Wohngemeinschaft (→ Aschenbecher), mit Besuch oder als Familie: Auf Küchentischen wird gespielt. Also muss der Tisch groß genug sein, um darauf eine ausufernde Partie überhaupt spielen zu können. Wo soll man auch sonst das Spielfeld von Monopoly oder Siedler von Catan aufbauen oder ein 1.000-Teile-Puzzle lösen? Etwa auf dem Boden? Nein. Das ist schlecht für den Rücken – und dafür wird viel zu selten Staub gesaugt! Auf dem Küchentisch muss neben den Figuren, Karten, Würfeln und dem Spielbrett zudem locker Platz sein für diverse Getränke, die über den langen Abend konsumiert werden. Und dazwischen braucht es auch noch Fläche, um wütend die Faust auf die Platte zu hauen, wenn man schon wieder im Hotel auf der Parkstraße übernachten und seinem Sitznachbarn das restliche Geld bezahlen muss. Ben Mendelson

O

wie Oval

Am Küchentisch spricht man über Gott und die Welt. Weil die Welt eben nicht ganz rund ist, hat meiner eine ovale Platte aus Birnbaumholz. Das ist sehr dekorativ, wenn auch nicht ganz praktisch, weil zum Lesen großformatiger Zeitungen eine Ecke fehlt. Will man am Küchentisch Gespräche führen, sind Schönheit und Handhabbarkeit ohnehin nicht entscheidend, sondern Vertrauen und vielleicht auch Verschwiegenheit (→ Sowjetunion). „Was du mir an diesem Küchentisch unter vier Augen erzählst, das bleibt bei mir“, sagte meine Großmutter, wenn ich ihr als Teenager und junge Erwachsene das Herz ausschüttete. Sie hat sich immer daran gehalten. Auch ich habe mir diesen Satz gemerkt und gebe weiter, was ich von ihr gelernt habe: An meinem Oval Table geht es vertraulich und vertrauensvoll zu. Angesichts der Weltlage wünschte ich mir dieses vertrauensvolle Miteinander nicht nur für Küchentische, ob nun oval oder eckig, sondern auch für das Oval Office, habe allerdings meine Zweifel daran, dass dieser Wunsch sich in den kommenden vier Jahren erfüllen wird. Beate Tröger

P

wie Psychologie

Auch bei der Küchenpsychologie geht es ums Reden, oft wartet man am Küchentisch mit simplen Antworten auf, die sich als falsch herausstellen. Manche Alltagsmythen leiten sich von ihr ab. Das Wort stammt wohl vom Küchenlatein ab: Mit dem Begriff verspotteten Akademiker einst das Latein der Mönche. Ähnlich schlicht ist die Küchen- im Verhältnis zur richtigen Psychologie. Männer reden mehr als Frauen, wird da behauptet. Oder dass man an der Handschrift die Persönlichkeit eines Menschen ablesen kann. Einer der populären Irrtümer, so wie die Annahme, Mozart zu hören würde Babys schlau machen. Und doch halten sie sich so hartnäckig wie die Mär, Männer könnten besser einparken als Frauen. Diese Meinungen sind weit verbreitet und werden immer wieder nachgeplappert. Am Küchentisch wird die Komplexität der Welt in Häppchen runtergebrochen. TP

S

wie Sowjetunion

Herbst, Ende der 80er-Jahre, eine Neubauwohnung in Moskau: Vom Redakteur einer sowjetischen Literaturzeitschrift bin ich eingeladen. Damit seine Frau am Herd dabei sein kann, sitzen wir erst mal in der Küche. Eine Flasche Wodka steht schon da, Vorspeisen dazu: Salat aus roter Bete, „Hering unterm Pelz“, marinierte Pilze. Später ziehen wir ins Wohnzimmer um – zu Borschtsch, Beef Stroganoff und Torte. Wir nehmen kein Blatt vor den Mund: So vieles läuft schief zwischen Moskau und Berlin in diesen Perestroika-Zeiten. Es ist normal, nicht einer Meinung zu sein. Die Küche als Freiraum ist sprichwörtlich bis heute. „Kuchonnye besedy“ (Küchengespräche) gibt es als Blog, als Podcast oder als Video inzwischen im Netz (→ Zuhören). Manche dienen dem Vertrieb von Mobiliar. Doch könnte ich heute an einem russischen Küchentisch sitzen, was würde ich alles zu hören bekommen! Es könnte laut werden, aber man entzweit sich nicht. „Achtest du mich?“, die Floskel kennt jeder. „Stoßen wir auf den Frieden an!“ Oder wenigstens auf das Ende des Blutvergießens. Irmtraud Gutschke

Z

wie Zuhören

„An Tischen wie diesen kommen Menschen zusammen, sitzen Millionen von Ihnen, von euch, morgens beim Kaffee, hören Radio, lesen die Nachrichten … so wie ich.“ Robert Habeck sitzt im schwarzen Wollpullover am „Küchentisch von Freunden“ (Buche oder Eichenholz?) und bewirbt sich in diesem Social-Media-Clip fürs höchste Regierungsamt. Er wünsche sich, an fremde Küchentische eingeladen zu werden, um den Menschen zuhören und mit ihnen debattieren zu können. Terminplanungen sollen schon laufen. Vermeintliche Volksnähe auf Instagram, ganz weltfremd ist diese Inszenierung nicht. Die Küche ist für viele das Zentrum des Lebens geworden: Essen, Hausaufgaben, Krisengespräche und Homeoffice, alles dreht sich um diesen Ort, Grenzen und Funktion fließen. Küchentisch ist Heimat. Und wenn Habeck klingelt: schnell aufräumen? Maxi Leinkauf

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