Wie wollen Sie das machen?
Entscheidend ist die grundlegende Sanierung der hochbelasteten Infrastruktur. Wir starten im Juli mit der Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim. Das ist der anfälligste Streckenabschnitt, der negativ auf den Gesamtverkehr ausstrahlt. Durch die Sanierung werden sich die Störungen auf dieser Strecke um 80 Prozent verringern. Das wird man in ganz Deutschland merken. Außerdem haben wir einen Aktionsplan mit kurzfristigen Maßnahmen gestartet.
Warum kommen Sie erst jetzt auf die Idee, ganze Streckenabschnitte auf einmal zu sanieren?
Weil wir immer gesagt haben, wir wollen nicht nur bauen, sondern vor allem fahren und wachsen. Die Verkehrsunternehmen, auch unsere eigenen Konzernsparten für den Güter- und Personenverkehr, haben Totalsperrungen immer als Teufelszeug empfunden. Aber heute gibt es der Zustand der Infrastruktur nicht mehr her, so zu bauen wie früher. Wir müssen radikaler an die Dinge herangehen. Das tun wir.
Sie wollen auf diese Weise bis 2030 die Hälfte des Kernnetzes sanieren. Gibt es bis dahin noch mehr Baustellen und noch unpünktlichere Züge?
Nein, jede Sanierung wird die Pünktlichkeit im ganzen Netz ein Stück verbessern, weil es weniger Störungen gibt. Die Baustellen und ihre Auswirkungen auf den Betrieb werden zurückgehen, weil wir viel stärker bündeln und planmäßiger bauen. Längere Fahrzeiten durch Baustellen werden außerdem schon in den Fahrplänen berücksichtigt.
Für solche geplanten Fahrplanänderungen haben viele Leute sogar Verständnis. Aber wie kommt es, dass Züge immer wieder überraschend in Baustellen geraten?
Das liegt tatsächlich an kurzfristig notwendigen Reparaturen, die durch den schlechten Zustand des Netzes bedingt sind. Diese ungeplanten Störungen in der Infrastruktur sind ein Haupttreiber für die Unpünktlichkeit. Deshalb ist die Sanierung der Infrastruktur so wichtig.
Der Regionalverkehr ist pünktlicher. Liegt das daran, dass Ihnen bei Verspätungen hier anders als im Fernverkehr hohe Strafzahlungen drohen – und dass Sie Regionalzügen deshalb Vorfahrt vor Fernzügen gewähren?
Das hat damit nichts zu tun. Welcher Zug vorgelassen wird, entscheidet nicht das Verkehrsunternehmen, sondern unsere Infrastruktursparte, die dabei klaren rechtlichen Regeln folgt. Entscheidend ist, was im Gesamtsystem die wenigsten Verspätungen bewirkt. Dafür setzen wir inzwischen auch Künstliche Intelligenz ein.
Wann erreichen Sie im Fernverkehr wieder eine Pünktlichkeit von 80 Prozent?
Unser Ziel ist, dass wir ab 2028 im Fernverkehr wieder bei 80 Prozent Pünktlichkeit sind. Das ist anspruchsvoll, aber es ist wichtig. Die Fahrgäste regen sich nicht über fünf oder sechs Minuten Verspätung auf. Sie regen sich zu Recht auf, wenn sie eine halbe oder ganze Stunde verspätet sind, wenn sie Anschlüsse verpassen und die ganze Reiseplanung unkalkulierbar wird. Deshalb arbeiten wir parallel auch an der Verbesserung unserer Reisendeninformationen.
Sie versprechen uns also, dass wenigstens diese krassen Fälle von Verspätungen seltener werden?
Die werden schon bei 70 Prozent Gesamtpünktlichkeit spürbar seltener. Extreme Verspätungen haben wir zurzeit bei rund zwei Prozent der Fernverkehrszüge. Das wollen wir deutlich reduzieren. Dafür schauen wir uns auch die regionale Verteilung an. In Nordrhein-Westfalen ist es besonders schlimm.
Da sagen die Schaffner manchmal durch: Jetzt kommt die Risikozone. Oder: der NRW-Treibsand.
Man kommt von Berlin relativ stabil bis nach Hamm, dann schaukeln sich die Verspätungen hoch. Das liegt an dem besonders belasteten und störanfälligen Netz. Wir schauen uns jetzt auch einzelne Züge an, die chronisch unpünktlich sind, und nehmen sie im Extremfall aus dem Fahrplan heraus, um das Gesamtsystem zu stabilisieren.
Die Streckensanierung ändert nichts am Grundproblem: In Deutschland fahren schnelle und langsame Züge viel zu oft auf denselben Gleisen. Das kostet Kapazität und führt zu verspätungsanfälligen Überholmanövern. Brauchen wir mehr durchgehende Neubaustrecken wie in Frankreich, Italien oder Spanien?
Die Debatte gab es in den Neunzigerjahren nach der Bahnreform, damals hieß das „Netz 21“. Dafür war das Geld nicht da. Aber zwischen Frankfurt und Mannheim planen wir zusätzlich zur Generalsanierung eine Neubaustrecke, die genau diesen Zweck hat: schnellen und langsamen Verkehr zu trennen. Das schafft nicht nur zusätzliche Kapazität, sondern stabilisiert den gesamten Betrieb, weil die wechselseitigen Einflüsse im Mischverkehr zurückgehen. Es genügt nicht, dass wir bestehende Infrastruktur sanieren. Wir müssen auch Strecken neu bauen.
Aber neue Strecken zu bauen, das dauert in Deutschland doch ewig?
Trotzdem müssen wir jetzt anfangen – wenn wir wollen, dass neue Strecken noch in den Dreißigerjahren in Betrieb gehen. Nach fünf Jahren mit der Strategie „Starke Schiene“ sehen wir, dass die verkehrspolitischen Ziele nicht an der Nachfrage scheitern werden. Dafür brauchen wir auch den Neubau. Und trotzdem gilt: Den größten Kapazitätseffekt bis 2030 bekommen wir durch die Sanierung und Digitalisierung des bestehenden Netzes.
Wenn Sie 2030 die wichtigsten Sanierungen beendet haben, geht die Bauerei dann wieder von vorne los?
Nein. Unser Anspruch ist, dass wir dann in einem einigermaßen eingeschwungenen Zustand sind. Wir werden die Infrastruktur nie wieder so stark auf Verschleiß fahren wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. Die nötige Wartung können wir dann im laufenden Betrieb erledigen oder mit nur kurzzeitigen Sperrungen, deren Auswirkungen auf den Fahrplan minimal sind.
Dann haben wir bald Schweizer Verhältnisse mit einer Pünktlichkeit von 95 Prozent?
Einen Fernverkehr in unserem Sinne gibt es in der Schweiz doch gar nicht! Nach unseren Maßstäben ist das alles Regionalverkehr, und da sind wir in Deutschland bei mehr als 90 Prozent. In der Abwägung zwischen zusätzlichem Verkehr und der Stabilität des Fahrplans sind die Schweizer ganz klar auf der Seite der Stabilität. Wir haben uns andere Prioritäten gesetzt. Wir wollen im Interesse des Klimas und der Mobilität vor allem mehr Züge fahren lassen, auch wenn das aufgrund der Gesamtsituation die Pünktlichkeit zusätzlich belastet. Deshalb ist für uns die Absicherung einer Mindestpünktlichkeit von 70 Prozent und die Entwicklung der Kundenzufriedenheit so wichtig.
Die Schweizer Bahn sagt: Weil unsere Infrastruktur so knapp ist, müssen wir pünktlich sein. Die Deutsche Bahn sagt: Weil unsere Infrastruktur so knapp ist, können wir nicht pünktlich sein. Das Eisenbahnerethos, dass Pünktlichkeit an erster Stelle steht, ist weg. Stattdessen herrscht beim Personal oft Defätismus.
So erlebe ich das nicht. Das Eisenbahnerethos spüre ich jeden Tag, wenn ich sehe, wie sich unsere Kolleginnen und Kollegen einsetzen. Natürlich können wir sagen: Wir nehmen zehn Prozent des Verkehrs aus dem Netz, dann sind wir wieder pünktlich. Aber das kann doch nicht unsere Antwort sein, wenn immer mehr Menschen und Unternehmen die klimafreundliche Schiene nutzen wollen.
Vielleicht braucht es manchmal auch mehr Härte. In Frankreich schließen die Türen zwei Minuten vor Abfahrt, in Deutschland darf dann auch die Reisegruppe mit 20 Fahrrädern noch einsteigen. Müssten Sie nicht sagen: Die Pünktlichkeit steht über allem?
Bei uns steht der Fahrgast über allem. Ich würde einen Zugchef nie kritisieren, weil er zum Beispiel auf eine Mutter mit Kinderwagen wartet. Für uns stehen neben der Pünktlichkeit die vielen Fahrgäste ganz oben, die mit uns fahren wollen und auch die Probleme mit uns durchstehen. Die Treue der Kundinnen und Kunden finde ich bemerkenswert, dafür kann ich mich nur jeden Tag bedanken. Wenn es anders wäre, müssten wir unsere Strategie überdenken. Aber im Moment sind viele bereit, diesen Weg mitzugehen – auch wenn er nicht so puristisch ist wie in der Schweiz.
Mehr Kapazität könnten Sie auch schaffen, ohne immer mehr Züge loszuschicken. Warum setzen Sie nicht wie die Franzosen mehr Doppelstockzüge im Fernverkehr ein?
Wir haben uns dagegen entschieden, weil die Reisenden uns sagen, dass häufige Verbindungen für sie wichtiger sind. Besser ein herkömmlicher ICE alle halbe Stunde als ein Doppelstock-ICE jede Stunde. Dann kommt bei einer Verspätung auch schneller der nächste Anschlusszug. Außerdem: Mit unseren XXL-ICE bieten wir so viele Sitzplätze wie fünf Mittelstreckenflugzeuge.
Warum keine Doppelstockzüge alle halbe Stunde, dann hätten Sie beide Effekte?
Beides zusammen braucht es nicht. Mit unserer Fahrzeugflotte und dem geplanten Halbstundentakt zwischen den 30 größten Städten decken wir die vorhersehbare Nachfrage ab und bleiben hinreichend flexibel.
Sie sprechen viel von der Sanierung der Hauptstrecken. Was ist mit den vielen anderen Strecken, auf denen zum Teil seit Jahrzehnten immer wieder gebaut wird, sodass es für Pendler keine Verlässlichkeit gibt?
Wir wollen auch den Zustand im Flächennetz weiter verbessern. Dazu haben wir mit dem Bund Einvernehmen, das soll finanziert werden. Wir wollen die Grundidee der Generalsanierung ins Flächennetz übertragen. Auch dort wollen wir stärker bündeln und die Betroffenheit zwischen Bautätigkeit einerseits und laufendem Betrieb andererseits reduzieren. Das geht aber nicht auf einen Schlag. Und trotzdem brauchen wir für den ländlichen Raum auch andere integrierte Mobilitätskonzepte.
Die Infrastruktur ist nicht alles: Was muss sich sonst noch ändern?
Die DB ist mitten in einer fundamentalen Transformation, quer über alle Geschäftsfelder und Prozesse. Da wir sehr personalintensiv sind, beschäftigt uns vor allem der demographische Wandel und der Arbeitskräftemangel. Wir haben in den vergangenen fünf Jahren rund 120.000 Beschäftigte neu eingestellt. Darauf sind wir stolz. Aber am Ende kommen wir auch da wieder auf die Infrastruktur: Ein veraltetes Stellwerk in der Peripherie ist nun mal kein attraktiver Arbeitsplatz. Wir müssen das System stärker automatisieren und digitalisieren, um den Personalbedarf zu verringern und die verbleibenden Arbeitsplätze attraktiver zu machen. Das gilt quer durchs ganze Unternehmen. Wir werden auch Dinge vereinfachen und weglassen, für die der Kunde nicht bereit ist zu zahlen.
Wann fahren die ersten Fernzüge ohne Lokführer?
Das wird irgendwann kommen, aber es ist nicht unsere erste Priorität. Es ist viel wichtiger, die Infrastruktur zu digitalisieren. Wir haben eine fünfstellige Anzahl von Fahrdienstleitern in Stellwerken, die zum Teil noch aus der Kaiserzeit stammen. Da müssen wir ran, um den laufenden Betrieb sicherzustellen.
Das liegt aber nicht immer an veralteten Stellwerken. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat zum Beispiel eine Bahnstrecke vor der Haustür, die für viel Geld modernisiert wurde. Trotzdem fährt dort nach 20 Uhr kein Zug mehr, weil im Stellwerk das Personal fehlt.
In einzelnen Fällen müssen wir im Nahverkehr das Angebot reduzieren, weil wir bestimmte Funktionen nicht besetzen können, das stimmt. Aber wir setzen alle Hebel in Bewegung. Die kalten Stühle in den Stellwerken, wie wir es ausdrücken, werden engmaschig überwacht. Das Thema beschäftigt uns auch im Vorstand. Allerdings braucht es oft eine zusätzliche Ausbildung, bis ein neuer Mitarbeiter einsatzfähig ist. Das geht nicht von heute auf morgen.
Gibt es ein Land, wo sie sagen: Da läuft es gut, das kopieren wir?
Wir haben seit Jahren guten Kontakt nach Süden, in Richtung Österreich und in die Schweiz. In beiden Ländern sind Verkehr und Schiene integriert. Beide Länder haben langfristige Finanzierungsmodelle. Das ist wichtig, damit die Baufirmen planen und Kapazitäten aufbauen können. Man kann und muss das nicht eins zu eins übersetzen. Aber man muss sich immer wieder mit anderen Eisenbahnsystemen auseinandersetzen, um neue Impulse zu gewinnen.
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine stellt sich auch für Deutschland die Frage, wie es sich wappnen muss. Für Truppen- und Materialtransporte ist die Bahn wichtig. Wie bereiten Sie sich darauf vor?
In enger Absprache mit dem Verteidigungsministerium, der Bundeswehr und der NATO. Es geht nicht nur um eine robuste Infrastruktur. Auch die Logistik ist bei der Verlegung von großen Truppenteilen wichtig. Unser europäisch aufgestellter Schienengüterverkehr spielt hier eine prominente Rolle.
Da müssen neue Waggons angeschafft, Brücken verstärkt werden. Was wird Sie das kosten?
Über die Summen will ich nicht spekulieren. Als Staatsbürger würde ich aber sagen: Das ist eine nachhaltige Investition, denn es geht um die Sicherheitsarchitektur Europas. Dabei spielen die Verbindungen Richtung Osten eine besondere Rolle, auch in die baltischen Staaten.
Aber das dauert doch viele Jahre, bis die Strecken ertüchtigt sind?
Klar, der beste Zeitpunkt wäre auch hier vor 10 oder 15 Jahren gewesen. Der zweitbeste Zeitpunkt ist aber jetzt. Der Ausbau der europäischen Netze dient übrigens militärischen wie zivilen Zielen gleichermaßen. Es liegt in der DNA der europäischen Eisenbahnerfamilie, dass wir alle unseren Beitrag leisten.