In den vergangenen Jahren ist „Dystopie“ zu einem Modebegriff geworden, in Gebrauch vor allem als Adjektiv. Alles Mögliche wird als „dystopisch“ etikettiert, auch wenn es in der Regel nur ein gewöhnliches, ein gewissermaßen alltäglich Schlechtes ist. Gegen die Fixierung aufs Negative hülfe eine gute Prise Utopie, mag man denken, den „Nicht-Ort“ der Utopie kurzerhand zum Gegenbild der Dystopie nehmend.
Schließlich war die historische Utopie des Thomas Morus durchaus das Gegenbild seiner schlechten Gegenwart, sie war der Spiegel, den er ihr vorhielt, ohne sie allzu deutlich zu benennen; es war zu gefährlich. Gefährlich ist es nicht, wenn heutzutage Künstler sich ans Utopische wagen. Insofern leben wir durchaus in besseren Zeiten.
Verrostete Fünfzacksterne stehen für den Niedergang des Kommunismus
Zwischen der Utopie und der Dystopie oszilliert die Ausstellung des Kunstmuseums Wolfsburg, die „Utopia“ als ihren Obertitel trägt. Denn ohne das schlechte Bestehende tritt das Utopische nicht deutlich genug hervor. So ist es ein kluger Schachzug von Kunstmuseums-Direktor Andreas Beitin und seinen Ko-Kuratoren Sebastian Mühl und Dino Steinhof, an den Eingang in die pechschwarz ausgeschlagene Halle des Wolfsburger Hauses die Installation „Firmament“ zu legen, die Raimund Kummer und Stephan Huber bereits 1991 aus sechzig verrosteten Fünfzacksternen geschaffen haben.
Da liegen sie nun, bauchig geformt, mal kleiner, mal größer auf Europaletten und erinnern an die Jahrzehnte, da sie östlich des Eisernen Vorhangs so etwas wie die Corporate Identity des Sowjetkommunismus bildeten, ein neuzeitliches „In hoc signo vinces“, was bekanntlich nie recht gelang und 1989/90 unrühmlich zu Ende ging. Sodass die rostigen Sterne, die Kummer und Huber aufgesammelt haben, von der verblichenen Hoffnung des Sozialismus künden, der erst in seinem Untergang als tatsächliche Utopie erkennbar wurde.
Die Lakonie dieser Arbeit tut gut, wie denn auch im Rundgang durch die weiteren Arbeiten von gut sechzig Künstlerinnen und Künstlern der allzu hohe Ton vermieden wird, der sich beim Begriff der Utopie allzu leicht einstellt. Man bekommt es eher mit überschaubaren Verbesserungsvorschlägen zu tun, wozu die Ausweitung des künstlerischen Spektrums auf angewandte Kunst und Architektur beiträgt. So macht sich die Gruppe OX2architekten mit ihrem Projekt „rethink*rotor“ Gedanken über das Recycling von Rotorblättern, wie sie demnächst in großer Zahl anfallen werden, wenn die entsprechenden Windräder ans Ende ihrer Lebenszyklen gekommen sein werden. Eindrucksvoll ist so ein einzelnes Rotorblatt am Boden der Halle, und ein runder Turm, aus aufrecht stehenden Blättern gebildet, wie ihn die Gruppe imaginiert, wäre ein Hingucker – nur, so richtig überzeugend oder gar zwingend wäre eine solche Nachnutzung wohl kaum.
Ungezügelt freie Natur ist inzwischen auch eine Utopie
Da sind die auf der Dachterrasse des Museumsgebäudes in ihren Plastiktöpfen aufgestellten Bäumchen eindrücklicher. Violeta Burckhardt und Andreas Greiner haben sie aus Baumschulen gerettet, die sie wegen vermeintlicher Mängel bereits zur Vernichtung ausgesondert hatten. Nach Ausstellungsende sollen sie per „Patenschaften“ an pflanz- und pflegewillige Bürger abgegeben werden. Auch das keine Utopie, sondern praktisches Handeln aus Verantwortung gegenüber der belebten Natur, die nicht nach makellosem Wuchs sortiert, sondern einfach lebt.
„Leben“ als das Gemeinsame aller Lebewesen beschreibt auch die Performance „Songs from the compost: mutating bodies, imploding stars“, in der Eglė Budvytytė eine jugendliche Gruppe durch Wald und Wiesen kriechen lässt, um eins zu werden mit der Natur und ihren Pflanzen. Das entsprechende Video der für die kommende Venedig-Biennale als Vertreterin Litauens ausgewählten Künstlerin läuft auf einer der großen Leinwände, die die Halle gliedern, und ist ein Beispiel für eine tatsächliche Utopie – etwas, das gedacht werden kann, doch ohne Aussicht auf Realisierung.
Ein praktisch-politisches Gegenbild liefert das Zwei-Kanal-Video „Forest Law“ von Ursula Biemann, das die juristische Anerkennung von Rechten des Waldes im ecuadorianischen Amazonasgebiet zum Thema hat, stolz erzählt von Angehörigen der indigenen Bevölkerung. Mit „Solidarität der Arten“ ist das entsprechende Kapitel der Ausstellung überschrieben, das auf allerälteste Utopien vom friedlichen Miteinander zurückgreift, vom gemeinsamen Überleben, wie es Noahs Arche symbolisiert.
Ist die Gegenwart vielleicht nicht gar so dystopisch?
An solchen Arbeiten wird deutlich, wie das Kuratorenteam den Untertitel der Ausstellung, „Recht auf Hoffnung“, übersetzt: in eine „Vielzahl von Mikro-Utopien, die in ihrer Gesamtheit etwas Positives bewirken können“. Oder doch auch jede für sich? Mit den „großen“ Utopien hat das 20. Jahrhundert schließlich Schiffbruch erlitten, links wie rechts auf der Skala der Politik, und auch die kleineren Utopien vom glücklichen, befreiten oder sonst wie neuen Leben sind vom Monte Verità bis Rishikesh irgendwann erlahmt oder ganz auf der Strecke geblieben.
Dass die Utopie der Hoffnung verschwistert ist, gilt am ehesten für den einzelnen Menschen. Die chinesische Künstlerin Cao Fei hat für ihr Video „Whose Utopia“ Arbeiterinnen und Arbeiter einer Elektrofabrik im Perlfluss-Delta gebeten, ihren persönlichen Lebenstraum vorzuführen, vor der nüchternen Wirklichkeit des Fabrikinneren, das so zur Bühne wird für singende, tanzende, befreite Menschen. Für ein Leben ohne den Zwang entfremdeter Arbeit. Denn das war doch die größte Utopie des 19. Jahrhunderts, den Menschen zu befreien von der Mühsal der – zumeist körperlichen – Arbeit.
Für erhebliche Teile der Menschheit ist das Wirklichkeit geworden, und vor diesem Hintergrund ist die Gegenwart vielleicht nicht gar so dystopisch. Auf jeden Fall bleibt die Hoffnung, dass „Vorschläge zu einem gerechteren und nachhaltigeren Miteinander“, wie sie die Kuratoren zusammengetragen haben, tatsächlich wirksam werden. Auch wenn manche Sterne vom Himmel gefallen sind, nicht nur die des Sozialismus. Dem Denken in Utopien tat es keinen Abbruch.
Utopia. Recht auf Hoffnung. Kunstmuseum Wolfsburg, bis zum 11. Januar 2026. Der Katalog kostet 39 Euro.
Source: faz.net