I – Aggression und Gewalt
„Neuerdings scheinen alle auf hundertachtzig zu sein – und zwar die ganze Zeit“, befand die New York Times und erklärte das Jahr 2022 zum „Jahr, in dem wir alle ausgerastet sind“.
„Ausrasten“, das ist ein Stichwort auch für die deutschen Verhältnisse. Die Bereitschaft, sich zurückzunehmen, seine spontanen Ausdrucksimpulse zu zügeln, um auf zivilisierte Art und Weise, friedfertig, kooperativ, miteinander umzugehen, bröckelt, ohne dass man dafür Gewaltexzesse des Staats, Elend, massenhafte Armut, Verwüstungen durch Kriege oder Bürgerkriege verantwortlich machen könnte.
Menschen stürmen, ohne Patienten zu sein, ins Sprechzimmer von Arztpraxen, bestehen auf umgehender Behandlung und weichen erst, wenn man mit der Polizei droht. In Krankenhäusern geraten Ärzte und Pflegekräfte zunehmend unter Druck. Im Januar 2024 veröffentlichte der Spiegel die Ergebnisse einer Anfrage bei allen 16 Landeskriminalämtern. Bundesweit stieg demnach die Zahl sogenannter Rohheitsdelikte in medizinischen Einrichtungen seit 2019 stark an. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft fordert mehr Schutz für das Personal gegen zunehmende Gewalt. „Das Aggressionspotenzial ist heute wesentlich höher als noch vor 25 Jahren.“ Fast jede zweite Klinik beschäftigt inzwischen Sicherheitsdienste. In Berlin üben sich Mitarbeiter von Notfallstationen seit Kurzem in Techniken der Abwehr körperlicher Angriffe.
Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung und der Deutsche Feuerwehrverband publizierten im Dezember 2023 eine „Befragung zu Gewalt gegen Einsatzkräfte“. Es gab 6.500 Rückmeldungen, in denen die Befragten über ihre Erfahrungen berichteten. Viele erlebten Beschimpfungen, Beleidigungen, Einschüchterung und Bedrohung, sahen sich in ihrem Dienst mit Verweigerung, Widersetzen, fehlender Kooperation konfrontiert, gaben an, mit Feuerwerkskörpern beworfen worden zu sein, meldeten Gewalt bei technischen Hilfsleistungen und Rettungsdiensten. Einige wurden bei der Kontrolle von Fahrzeugen mit Anfahren bedroht.
Wahlplakate des politischen Gegners zu übermalen oder abzureißen, ist kein Novum. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein geschah das zumeist in den frühen Morgenstunden oder im Schutz der Dunkelheit; schließlich handelt es sich hier um Straftatbestände. Inzwischen scheut man keine Zeugen, passt Wahlhelfer bzw. Kandidaten beim Anbringen der Werbetafeln ab, attackiert sie verbal, mitunter auch physisch, bis hin zu roher Gewalt.
Hassattacken im politischen Alltagsgeschäft. Laut einem vom Bundeskriminalamt im Herbst 2023 beauftragten Monitoring sahen sich 38 Prozent der Amts- und Mandatsträger, überwiegend Landräte oder Bürgermeister, Beleidigungen, Verleumdungen und Bedrohungen ausgesetzt, in zwei Prozent der Fälle körperlichen Angriffen. Einige der Angefeindeten resignierten, nachdem sie sich in den sozialen Netzwerken mit Morddrohungen konfrontiert sahen, und gaben ihre Ämter auf.
Leicht entflammbare Gemüter auch im verbalen Austausch. Gespräche fangen harmlos an, aber sobald sie Themen berühren, die Grundüberzeugungen ins Spiel bringen, wird es oftmals haarig. Jetzt fliegen die Argumente, selbst in homogenen Sozialmilieus, scharfkantig hin und her, der Ton wird unversöhnlich, verletzend, und schließlich endet der entgleiste Wortwechsel mit dem Beschluss, es künftig bei Small Talk zu belassen.
II – Respekt, soziale Teilhabe, Mitgestaltung
Woher diese Verletzung elementarer zivilisatorischer Verhaltensstandards, diese Gereiztheit, Unduldsamkeit, diese Wut- und Hassausbrüche? Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft spielt dabei sicher eine Rolle. Auf der einen Seite die Profiteure des gesellschaftlichen Umbaus der vergangenen Jahrzehnte, die Angehörigen der neuen Mittelklasse. Auf der anderen Seite die Absteiger: alte Mittelklasse, Arbeiterschaft, das Gros der Angestellten samt deren Nachkommen, die ihre Träume auf sozialen Aufstieg zumeist zeitig begraben müssen.
Der Soziologe Andreas Reckwitz hat nachvollzogen, was der urbanen akademischen Mitte zum Erfolg verhalf und worauf sie sich stützt, um die Verlierer außen vor zu halten: hoher formaler Bildungsabschluss als Grundlage sozialer Anerkennung sowie des Zugangs zu Schlüsselpositionen in der Wissensökonomie, in Kultur und Medien; Sublimierung von allem, was irgend geeignet ist, Abstände zu markieren: Essen, Wohnen, Reisen, Körperverhältnis; Betonung der je eigenen Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit, Unersetzbarkeit; Streben nach Echtheit, nach Authentizität in allen Lebenslagen, auch und gerade im beruflichen Zusammenhang.
Die sozialen Absteiger kommen da nicht mit und sollen es auch nicht. Was sie erleben und erleiden, ist die Abwertung jener Qualitäten und Fähigkeiten – Pflichtgefühl, Einsatzbereitschaft, Zuverlässigkeit, Kollegialität –, die sie in die soziale Waagschale zu werfen haben, und das finden sie zutiefst ungerecht. Ihre wiederkehrende Erfahrung, unter Wert geschätzt und abgefertigt zu werden, ragt konstitutiv in den Alltag hinein. Jede neue Situation gerät zur Prüfung: Zahlen sich Mühe und emotionale Selbstkontrolle endlich einmal aus oder erntet man wieder nur Missachtung? In vorauseilender Erwartung liest man aus an sich nichtigen Vorkommnissen eine gezielte Verletzung der eigenen Würde heraus und fährt beim nächsten Tiefschlag unversehens aus der Haut: beim Arzt, im Supermarkt oder auf dem Amt.
In seinem brillanten Essay Das Unbehagen in der Kultur von 1930 mahnte Sigmund Freud eindringlich, dass eine Triebversagung ohne befreiende Wirkung in Aggression nach außen umschlagen kann. „Es ist nicht leicht zu verstehen, wie man es möglich macht, einem Trieb die Befriedigung zu entziehen. Es ist gar nicht so ungefährlich: wenn man es nicht ökonomisch kompensiert, kann man sich auf ernste Störungen gefasst machen.“ Wie recht er doch hatte, zu seiner Zeit und heute wieder! Und es geht nicht um ökonomische Kompensation allein, es geht um Respekt, soziale Teilhabe, Mitgestaltung der Verhältnisse.
III – Liberale Demokratien verspielen ihre Zukunft
Die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer besitzt auch eine unmittelbar politische Dimension. Wer trotz aller Bemühungen den Eindruck gewinnt, nicht gesehen, nicht gehört zu werden, nicht gemeint zu sein, wenn es um die wirklich wichtigen Dinge geht, entwickelt früher oder später Groll auf die Privilegierten und sinnt darauf, ins Licht zu treten und den Eliten den Marsch zu blasen.
Dieses Rachemotiv spielte beim Brexit 2016 ebenso eine Rolle wie bei Donald Trumps doppeltem Triumph über das liberale Ostküsten-Amerika oder bei den Wahlerfolgen der AfD. Vergeblich, all diesen Verprellten vorzuwerfen, dass sie mit ihrer Entscheidung letztlich ihren eigenen ökonomischen Interessen schaden. Das nimmt man in Kauf – Hauptsache, man jagt den Etablierten Angst ein.
Und hier wird es gefährlich. Die rücksichtslos ausgefochtenen Kämpfe um soziale Sichtbarkeit und Anerkennung untergraben die Bestandsvoraussetzungen jeglichen zivilisierten Miteinanders: Toleranz, Fairness, Verständigungsorientierung, Kompromissbereitschaft. Wenn das nicht geht, geht nichts mehr, dann verzehren sich die liberalen Demokratien des Westens in Feindseligkeit und Lagerbildung, verspielen zusammen mit dem sozialen Frieden und ihrem Wohlstand auch ihre Zukunft und geraten im globalen Wettstreit der Zivilisationen unweigerlich ins Hintertreffen.
IV – Wo ist die kollektive Zuversicht?
Denn Zivilisation braucht Zukunft, gemeinschaftliche Zukunft, eine Perspektive, die die Individuen ermutigt, mitreißt, Entbehrungen, Strapazen ertragen lässt, mit Zuversicht und Kraft erfüllt, die Dinge zum Besseren zu wenden und selbst ein gutes, wertgeschätztes Leben zu führen. Unsere „Zukunft“ ist ein Und-so-weiter des Akutgeschehens, kein Aufbruch-zu, zu einem Anders-als; dazu müsste dieses „Anders“ als „Besser“ denkbar sein. Diesen Glauben haben viele verloren. Mit schwerwiegenden Konsequenzen.
Denn mehr noch als Kränkungen in der Gegenwart schwächt der Mangel an kollektiver Zuversicht die zivilisatorischen Bindungskräfte der Individuen, verleiht ihren Bestrebungen einen primär individualistischen, aufs Hier und Jetzt gerichteten Charakter, der sich zu den Bedürfnissen der anderen gleichgültig verhält und auf der unmittelbaren Befriedigung der eigenen Interessen besteht. Dringt man damit nicht durch, verliert man leicht die Beherrschung und rastet aus.
Wolfgang Engler ist Soziologe und Publizist. Sein neues Buch Stand der Zivilisation ist bei Matthes & Seitz (156 S., 14 €) erschienen