Sabine Korsukéwitz aus Frankreich schreibt: „Mein Wahlrecht wurde mir gestohlen. Ich halte das für zutiefst undemokratisch und ungerecht.“
Catharina Schreiner aus Schweden: „Es schmerzt mich sehr, bei dieser wichtigen Wahl meine Stimme nicht abgeben zu können. Hoffe, das Problem kommt an die Öffentlichkeit!“
Jörg Matschullat aus New Hampshire: „Wir sind faktisch von der Wahl ausgeschlossen. Ist das im Sinne unserer Verfassung?“
Mareile Kaufmann aus Norwegen: „In meinem deutschsprachigen Umfeld fragt man sich schon seit Wochen gegenseitig, ob die Wahlunterlagen angekommen sind.“
Sabrina Koch aus Kalifornien: „Ich finde es inakzeptabel, dass Deutsche im Ausland auf diese Weise vom Wahlprozess ausgeschlossen werden. Demokratie darf nicht an langsamen Versandwegen scheitern.
Henrik Schneider aus Texas: „Die Bundesregierung sollte sicherstellen, dass Wahlunterlagen früher versandt werden oder digitale Alternativen für im Ausland lebende Deutsche geprüft werden.“
Aus vielen Ländern erreichen die ZEIT-Redaktion derzeit Zuschriften wie diese. Von deutschen Wahlberechtigten im Ausland, die sich um ihr Stimmrecht betrogen fühlen. Weil sie ihre Briefwahlunterlagen zwar rechtzeitig beantragt, aber nicht rechtzeitig erhalten haben. Und nun keine Möglichkeit haben, bei der anstehenden Bundestagswahl ihre Stimme abzugeben.
Wie viele Deutsche im Ausland leben, wird von den diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik nicht gezielt erfasst. Schätzungen reichen von etwa drei bis vier Millionen Menschen. Geht man analog zum Bundesgebiet von einer Stimmberechtigtenquote um die 73 Prozent aus, dürften 2,2 bis 2,9 Millionen Deutsche im Ausland theoretisch mitwählen. „Das entspricht der Wählerschaft einer Kleinpartei“, sagt Christian Kober.
Ein kompliziertes Prozedere
Kober führt in Shanghai die Asiengeschäfte eines mittelständischen deutschen Werkzeugherstellers. Er ist einer von vielen deutschen Wahlberechtigten in China, die sich in deutschsprachigen Chatgruppen zuletzt mit wachsender Wut und Verzweiflung über das absehbare Scheitern ihrer Stimmabgabe beklagten.
Das Prozedere der Auslandswahl ist kompliziert. Wer seine Stimme abgeben will, muss zunächst bei der letzten Meldegemeinde in Deutschland beantragen, ins Wählerregister eingetragen zu werden. Von dort werden Briefwahlunterlagen ins Ausland versandt – per Post. Die Stimmberechtigten füllen sie aus und senden sie zurück an die Gemeinden in Deutschland – ebenfalls per Post.
Um die Versandzeiten zu verkürzen, können Auslandswähler den Kurierdienst des Auswärtigen Amts nutzen. Das geht theoretisch schneller, multipliziert aber die potenziellen Fehlerquellen: Die Briefwahlunterlagen werden von den Gemeinden per Post ans Außenministerium in Berlin geschickt, von dort aus weiter an die deutschen Auslandsvertretungen in der Welt und anschließend auf demselben zweistufigen Weg zurück. Auch das Auswärtige Amt garantiert keine rechtzeitige Zustellung – und bei vielen Wahlberechtigten zeichnete sich in der zurückliegenden Woche ab, dass die Unterlagen nicht mehr rechtzeitig eintreffen werden.
Durch die verkürzten Fristen der vorgezogenen Bundestagswahl haben sich die Probleme bei der Auslandswahl noch verschärft, sie dürften diesmal mehr Menschen betreffen als bei vergangenen Wahlen. Aber neu sind die Probleme mitnichten. Christian Kober etwa lebt bereits seit 1998 in China. Sieben Bundestagswahlen sind seitdem ins Land gegangen, am Sonntag folgt die achte. Bei keiner einzigen von ihnen ist es Kober gelungen, seine Stimme abzugeben.
Auch diesmal wird er nicht mitwählen können. Mit reichlich Vorlauf hatte Kober bei seiner letzten Meldegemeinde in Deutschland beantragt, seine Wahlunterlagen auf dem Kurierweg an das deutsche Generalkonsulat in Shanghai zu schicken. Weil die Unterlagen auf sich warten ließen, hakte er nach – und erfuhr, dass die Gemeinde den Brief versehentlich nicht ans Außenministerium in Berlin adressiert hatte, sondern an Kobers Postanschrift in Shanghai. Damit befindet sich das Schreiben nun irgendwo auf dem langen Postweg von Deutschland nach China und wird absehbar nicht mehr rechtzeitig ankommen. Die letzte Kurierpost des Auswärtigen Amts wurde in Shanghai am vergangenen Dienstag abgeholt.
Im Bundestag eher ein Randthema
Bereits vor vier Jahren, bei der jüngsten Bundestagswahl, trafen Kobers Unterlagen erst nach der Wahl in Shanghai ein. „Damals“, sagt er, „begann ich zu überlegen, was sich machen lässt.“ Er startete eine Onlinepetition, die den Bundestag aufforderte, gleiches Wahlrecht für Deutsche im Ausland zu schaffen. Gleichzeitig focht er mit einem schriftlichen Einspruch die Bundestagswahl an. Dass dem nicht stattgegeben wurde, überraschte Kober nicht. „Darüber entscheiden schließlich Abgeordnete, die ihren Sitz im Bundestag der Wahl verdanken.“
Zusammen mit dem Tönissteiner Kreis, einem parteiunabhängigen Netzwerk auslandserfahrener Führungskräfte, wandte sich Kober schließlich direkt an die Koalitionsparteien und die Wahlrechtskommission des Bundestages. Letztere nahm sich des Themas an, wenn auch eher am Rande: Ihre Hauptthemen waren eine Verkleinerung des Bundestages und die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Kober und seine Mitstreiter wurden angehört. Die Parteien, sagt Kober, hätten das Anliegen im Grunde wohlwollend diskutiert. „Nur der Mann von der AfD wollte uns das Wählen nicht erleichtern, weil er irgendwo gehört hatte, dass ein paar junge Deutsche in Goa mal irgendwelchen Unsinn mit ihren Wahlzetteln angestellt hatten.“
Das Thema schaffte es am Ende in den Koalitionsvertrag, auch wenn, wie Kober spöttisch anmerkt, die Lage von Deutschen im Ausland mit weniger Zeilen abgehandelt wurde als die Lage von Wölfen in Deutschland. SPD, Grüne und FDP verständigten sich auf die knappe Formulierung: „Wir wollen die Ausübung des Wahlrechts für im Ausland lebende Deutsche erleichtern.“
Änderungen? Zu kompliziert!
Sehr weit sind die Koalitionäre damit offensichtlich nicht gekommen. Sebastian Hartmann, der für die SPD in der Wahlrechtskommission saß, antwortet auf ZEIT-Nachfrage: „Wir haben uns dafür ausgesprochen, die Hürden für den Eintrag ins Wählerregister zu senken. Gerade bei einer vorgezogenen Bundestagswahl ist dieses Thema besonders relevant.“
Beantragt werden kann die Registrierung bei den deutschen Gemeinden nun erstmals per E-Mail, statt wie bisher per Post. Letzteres wurde in den Wahlrundschreiben der deutschen Auslandsvertretungen als Fortschritt verkauft – was besonders deutsche Wahlberechtigte in Ostasien belustigte, die an dortige Digitalisierungsstandards gewöhnt sind. Entsprechend hoch war in den Onlinechatgruppen deutscher Expats in China zuletzt die Dichte an Facepalm- und Augenroll-Emojis.
2022 übergab die Wahlrechtskommission ihren Abschlussbericht der Parlamentspräsidentin. Seitdem hat Kober nichts mehr von möglicherweise angestrebten Verbesserungen gehört. Nach seiner Kenntnis habe sich gegen eine weiterreichende Änderung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche vor allem das Innenministerium gesperrt. „Die hatten sinngemäß zwei Einwände“, sagt Kober. „Erstens: Grundsätzlich sei es ja bereits möglich, im Ausland zu wählen. Zweitens: Änderungen seien zu kompliziert.“
Eine Auslandsstimme gerettet
Eingesetzt hatten sich Kober und seine Mitstreiter für zwei alternative Formen der Wahlteilnahme: per Digitalwahl oder durch Stimmabgabe in den deutschen Botschaften und Konsulaten. „Beides ist in anderen Ländern möglich“, sagt Kober. Im französischen Parlament etwa gibt es eigene Sitze für Vertreter der Auslandsfranzosen. Die Türkei lässt Diaspora-Türken in ihren Auslandsvertretungen abstimmen. In Estland wird digital gewählt. In Deutschland aber sperren sich gegen beide Alternativen bisher die Behörden.
Von den schätzungsweise drei bis vier Millionen Auslandsdeutschen beantragten bei der letzten Bundestagswahl nur knapp 130.000 eine Eintragung ins Wählerverzeichnis. Möglich, dass sich manche durch das komplizierte Prozedere abschrecken ließen, dass andere vielleicht von vorneherein aufgaben, weil sie in der Vergangenheit gescheitert waren. Diesmal ließen sich gut 210.000 Auslandsdeutsche registrieren, also signifikant mehr – vielleicht ein Zeichen dafür, dass die aktuelle Wahl als besonders wichtig eingeschätzt wird.
Manche versuchen in Chatgruppen deutscher Expats in China derzeit noch, gerade rechtzeitig Privatkuriere zu finden, die ihre zu spät eingetroffenen Wahlunterlagen mit nach Deutschland nehmen und dort in die Post geben können. „Fliegt jemand heute Abend?“, fragt einer. Eine halbe Stunde später die Antwort: „Shanghai-München, lande morgen 6 Uhr.“ Eine Auslandsstimme ist gerettet.
Christian Kober fragt sich vor allem, warum die Probleme bei der Auslandswahl nicht längst ernster genommen werden. „Ans Innen- und Außenministerium richtet sich auch die Frage: Wenn ihr gar nicht genau wisst, wie viele Deutsche im Ausland leben, vielleicht sind es dann ja auch zehn Millionen?“ Kober will die Wahl auch in diesem Jahr wieder anfechten. In den Chatgruppen ruft er derzeit andere Betroffene auf, es ihm gleichzutun. Es gibt jede Menge Zuspruch.