A
wie Anfänge
Das erste Buch von Andrea Camilleri, das posthum veröffentlicht wurde, ist ein Bühnen-Monolog, der ursprünglich am 15. Juli 2019 in den Caracalla-Thermen von Rom, die wir von Federico Fellini kennen, uraufgeführt werden sollte. Aber das Vorhaben wurde gestoppt, weil sich der gesundheitliche Zustand Camilleris verschlechterte. Er starb am 17. Juli. Es ist das Ende, das an den Anfang zurückführt: eine typisch camillerische Relektüre des ersten Mordes in der Geschichte der Menschheit, von dem möglicherweise alle anderen Morde nur Varianten und Spiegelungen sind. Dass ein Mensch in der Lage ist, einen anderen Menschen zu töten, auf so viele verschiedene Arten, mit so vielen verschiedenen Gründen und mit so vielen unterschiedlichen Folgen, das ist der Skandal, der den einen zum Commissario und den anderen zum Schriftsteller macht. Wir begreifen anhand dieses Monologes, dass → Vigàta, der Lebens- und Arbeitsort des Commissario Montalbano, nichts anderes ist als der Garten Eden – nach dem Sündenfall.
B
wie Berlusconi
Bei uns in Deutschland ist die Berlusconi-Holding MFE – MediaForEurope gerade dabei, den TV-Konzern ProSiebenSat.1 zu übernehmen, das regt kaum jemanden auf. Andrea Camilleri hingegen wäre alarmiert gewesen. Er war zu Berlusconi-Zeiten einer seiner schärfsten Kritiker, empfand die Politik der italienischen Rechten als Triumph des schlechten Geschmacks. „Die Schäden des Systems Berlusconi werden jahrzehntelang wirken“, warnte er 2010 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Jeder zweite Italiener könne nicht lesen und informiere sich nur übers Fernsehen, das aber kontrolliere der „Verfassungsfeind“ Berlusconi. Camilleri verabscheute auch den Nachfolger, er bekomme Brechreiz, wenn er Salvini mit dem Rosenkranz sehe. Noch auf dem Totenbett revanchierten sich dessen Anhänger. „Ein Kommunist weniger“, hieß es in den sozialen Netzwerken.
C
wie Cannoli
Das Erste, was der Commissario auf dem Schreibtisch von Pasquano bemerkt, inmitten von Papier und Fotografien von Ermordeten, ist eine „guantera di cannoli giganti con allato ’na buttiglia di passito di Pantelleria“. So geht das los, nicht nur im Roman Il Campo del Vasaio (Der Töpferhof). Das Essen ist für Commissario Montalbano nicht bloß ein sinnliches Vergnügen, es ist auch ein Code, die Welt zu entschlüsseln, Sizilianer zu bleiben und trotzdem Polizist zu sein. Die Cannoli sind bei Camilleri ein kulinarisches Leitmotiv, das nicht nur beim Montalbano stets an der richtigen Stelle aufscheint. Wie so viele italienische Gerichte stehen auch die Teigtaschen für eine bestimmte Fest-Gelegenheit, nämlich die Vorbereitung auf Ostern. Der Passito di Pantelleria ist der in jeder Hinsicht schwere sizilianische Weißwein, mit dem man sich im Nullkommanichts in die Antike zurückversetzen kann. Die Cannoli und der Passito gehören zu einer Geschichte, wie sie nur Camilleri erzählen kann: Essen – Mythos – Psyche – Politik.
E
wie Empedokles
Camilleris Geburtsort Porto Empedocle, kaum verhüllt zum fiktiven → Vigàta camoufliert, ist nach dem Naturforscher, Philosophen, Redner und Dichter Empedokles benannt, der um 495 bis 435 v. Chr. in Agrigent lebte. Seine Lehre von den vier Urstoffen oder „Elementen“ prägte das naturwissenschaftliche Weltbild der Antike. Die Naturidee von Erde, Wasser, Luft und Feuer stand am Anfang des chemisch-biologischen Denkens, beeinflusste auch die westliche Medizin bis ins 19. Jahrhundert hinein. Friedrich Hölderlins Trauerspiel Der Tod des Empedokles blieb mit drei Entwürfen unvollendet. Sigmund Freud vertrat 1937 in seinem Aufsatz Die endliche und die unendliche Analyse die These, Empedokles habe, indem er das Prinzip des Streits als eigenständige Naturkraft einführte, den Todestrieb entdeckt – und sei damit ein Vorläufer der Psychoanalyse.
I
wie Institution
Andrea Camilleri wurde, nach langen Jahren emsiger Tätigkeit als Regisseur, als Lehrender und Leitender (u. a. des Centro Sperimentale di Cinematografia) und als Autor zur kulturellen Institution in Italien, da hatte er die 70 bereits überschritten. Im denkwürdigen Sommer 1998 sahen die italienischen Bestsellerlisten so aus: Platz 1, 2, 3, 4: Camilleri – und weitere vier der ersten zehn Plätze ebenfalls von ihm belegt. Vier Kriminalromane und vier andere Bücher. Es war eine literarische Sensation. „Eine Verschwörung der Leser“, nannte er es selbst, nicht ohne Stolz. „Wir → Sizilianer fahren jahrzehntelang herum wie ein Unterseeboot mit ausgefahrenem Periskop, und plötzlich erscheint uns die Lage günstig, und wir tauchen auf.“ Er war jenseits der 50, als er sein erstes Buch veröffentlichen konnte, es wurde von gut einem Dutzend Verlagen abgelehnt, ehe Leonardo Sciascia ihn zum Verlag Sellerio holte. Dort wurde er zu jener Institution, auf die sich alle nicht völlig berlusconifizierten Italienerinnen und Italiener einigen konnten.
L
wie Leggerezza
Problematisch, das Prinzip der Leggerezza einer Gesellschaft zu erklären, die bei „leicht“ an minderwertig und anstrengungslos denkt, an Schlagermusik. Es geht um eine Geisteshaltung. Vor allem aber um die Art, wie man Dinge miteinander verbindet, das Komische mit dem Dramatischen, die Wissenschaft mit dem Alltag, die Odyssee mit den TV-Nachrichten. Mit der Leggerezza macht man es sich ja nicht leicht; man denke nur, wie viel Puste es braucht, eine Feder in der Luft zu halten. Italo Calvino hat das anhand von Perseus erklärt, dem Einzigen, der das Medusenhaupt bezwingen konnte, weil er im wahrsten Sinne des Wortes leichtfüßig der Versteinerung entkam. Der Polizist Catarella in den Montalbano-Romanen – ein Mann mit dem Herzen eines Kindes. Kein Gedanke, je zwischen high und low zu unterscheiden, zwischen „elitär“ und „volkstümlich“.
M
wie Montalbano
Montalbano ist erst einmal eine Hommage, nämlich an den spanischen Kommunisten und Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán, der den Privatdetektiv Pepe Carvalho erfand, eine Figur, die am eigenen Leib die Transformationen nach der Franco-Diktatur erlebt. Der Commissario Montalbano in Sizilien ist nicht minder ein Zeitzeuge der Transformationen der italienischen Gesellschaft und ihres sizilianischen Gegenübers. Die vielen Charaktere, denen er begegnet, lassen sich stets als Figuren einer antiken Tragödie wie als Repräsentanten diverser sozialer Konflikte ansehen. Seine sprichwörtlich schlechte Laune ist häufig politisch motiviert. Der Erdung dienen eine Fernbeziehung und eine Crew mit ausgeprägten Charakteren. Einmal, als es darum geht, die Mörder eines Migrantenjungen zu finden, erinnert er sich an Friedrich Dürrenmatts Kommissar, der gegen alle Widerstände sein Versprechen halten will. Er ist ein Zeitgenosse, der uns begleitet: auch in der durchaus kultigen Fernsehserie mit Luca → Zingaretti, die von 1999 bis 2021 in 37 Folgen im italienischen Sender Rai 1 lief.
S
wie Sizilien
„Zwischen Fest und Massaker“ überschrieb der Waschzettel des Klaus-Wagenbach-Verlags den 2018 neu aufgelegten SALTO-Band Sizilien und Palermo. Eine literarische Einladung. Die 144 Seiten (Herausgeberin Katharina Bürgi) mit Kurzprosa, Roman-Auszügen, Essays und Gedichten sind das wohl prägnanteste Kompendium dieser Insel im Süden Europas. Ein Sizilianer, hieß es darin, wird niemals von sich sagen, er sei Italiener, das müsse Italien sich abschminken, denn der Stolz der Menschen auf ihre Insel-Heimat zwischen Messina und Selinunte, Trapani und Siracusa, Agrigento und Taormina, Palermo und Ragusa sei groß. „Wir sind unsympathisch“, deklamierte der Schriftsteller Leonardo Sciascia, der selbst Krimis (→ Montalbano) schrieb. Gesualdo Bufalino nannte Sizilien das „Land der Exzesse“. Andrea Camilleri macht es uns liebenswert.
V
wie Vigàta
Der fiktive Schauplatz Vigàta in → Sizilien, an dem Camilleri nicht nur seine Kriminalromane mit Kommissar → Montalbano spielen lässt und mit viel Lokalkolorit ausstattet, ähnelt sehr seinem Heimatort Porto Empedocle südwestlich von Agrigent. Die Stadt ist nach dem griechischen Philosophen → Empedokles benannt, war im 15. Jahrhundert ein Kornverladeplatz. Der Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello, auf den sich Camilleri immer wieder spielerisch und alle Metaebenen jonglierend bezieht, wurde im Vorort Caos geboren. In die internationalen Schlagzeilen geriet die Stadt im Juli 2004, als das deutsche Rettungsschiff Cap Anamur mit 37 afrikanischen Flüchtlingen an Bord in den Hafen einlief. Das Schiff wurde beschlagnahmt, die meisten Flüchtlinge abgeschoben und Teile der Besatzung in polizeilichen Gewahrsam genommen. Im Erzählband Romeo und Julia in Vigàta (2015)transferiert Camilleri nicht nur Shakespeare nach Sizilien, auch ein Esel namens Mussolini taucht auf und ein provisorisches „Königreich von Pommern“, das im Meer verschwindet.
Z
wie Zingaretti, Luca
Einen Charakter darzustellen, der sich in den Köpfen eines großen Leserkreises geformt hat, ist schwierig. „Den Commissario habe ich mir ganz anders vor-gestellt“, heißt es dann. Luca Zingaretti konnte in diese Rolle vielleicht so perfekt hineinwachsen, weil er selbst eine Art Montalbano ist. Sein jüngerer Bruder Nicola hat alle Wandlungen der Kommunistischen Partei miterlebt. Luca selbst war in der Unità Proletaria per il Comunismo und hat ein Faible für „reale“ Figuren der italienischen Geschichte, er war Pietro Nenni in Der junge Mussolini oder ein Mafia-Boss in La Piovra. Er ist der Camilleri-Darsteller par excellence, übrigens in Rom geboren und aufgewachsen. Aber das verzeihen wir ihm. „Es gibt keinen Sizilianer, dem Sizilien nicht fehlt“, sagte Andrea Camilleri einmal. Es gibt sogar Leute, denen Sizilien fehlt, obwohl sie gar keine Sizilianer sind.