Abgehängte
Eine Attitüde, sich von Westdeutschland her für Ostdeutschland zu interessieren, ist der mitleidige Blick herab auf einen angeblich „abgehängten“ Teil des Landes. Klar, Westdeutsche sind nach Vermögen, Einkommen oder Führungspositionen privilegiert. Doch Ostdeutsche haben sich in den 35 Jahren seit 1990 gegen all jene Widrigkeiten oft etwas aufgebaut, sei es Eigenheim oder Karriere.
Wer dies von Regierenden bedroht sieht, ist nicht zwangsläufig → Jammerossi und seine resultierende Wahl-Entscheidung meist kein Verzweiflungsakt, sondern von einem selbstbewussten Selbstverständnis getragen. Bisher gelingt es fast nur der AfD, dies auszuschlachten. Ihr Spitzenkandidat in Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, ist das beste Beispiel.
Doch auch abseits des Rechtspopulismus verschaffen sich Dirk Oschmann (→ Polemik), Sahra Wagenknecht oder Claus Weselsky in souverän-unerschütterlichem Ton Gehör. Ihnen vom Westen her auf Augenhöhe und ohne Abschätzigkeit zu antworten, wäre ein Anfang. Sebastian Puschner
Evangelische Kirche
Die Verbitterung und Härte, mit der 1993 und später die Stolpe-Debatte geführt wurde, lässt sich heute kaum verstehen. Gerhard Besier, Kirchenhistoriker und Kohl-Berater, erklärte die evangelische Kirche de facto zur SED-Vorfeldorganisation, als hätte sich der Brandenburger Konsistorialrat Manfred Stolpe mit den Genossen im Politbüro auf Augenhöhe bewegt.
Die gesellschaftlichen Bedingungen aber, unter denen sich sein Handeln vollzog, blieben in Besiers Büchern weitgehend außen vor. Wenn so gut wie alle westlichen Länder die DDR in den 1970er Jahren als Staat anerkannt hatten, wie hätte Stolpes Kirche dem gleichen Staat diese Anerkennung verwehren können? Schon gar nicht, wenn sie von diesem Staat etwas wollte.
Professor Besier verlor 2003 – durch sein Grußwort bei der Eröffnung eines Scientology-Büros in Brüssel – jegliche wissenschaftliche Reputation und seinen Job in Dresden als Direktor des Hannah-Arendt-Instituts. 2009 ging er für die Linkspartei in den Sächsischen Landtag. Karsten Krampitz
Kairos
Als im vergangenen Jahr Jenny Erpenbecks Roman Kairos den Booker Prize erhielt, wurde er im eigenen Land noch einmal kritisch nach-rezensiert. Als der Roman erschien, ließen Jurys ihn passieren. Als er im englischsprachigen Ausland aufstieg und die Autorin als deutsche Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt wurde, da meldeten sich Kritiker.
Plötzlich solle in Kairos „Ostdeutschtümelei“ stecken, fand ein Historiker, von Herkunft ostdeutsch – wie die Autorin. Aber bitte, die Verhältnisse, die Stoff für Kairos wurden, sie sind so. Niemand sollte versuchen, die Lebensgeschichten der Romanfiguren als biografischen Ballast abzutun, dann bekommt er es mit der Alt-Bundeskanzlerin zu tun.
Romane wie Christa Wolfs Der geteilte Himmel in den 60ern, Wolfgang Hilbigs Das Provisorium am Ende der 90er und Julia Francks Welten auseinander in den 2020er Jahren sind doch hoffentlich kein literarischer Ballast, weil sie die alte und die neue Bundesrepublik nicht als Paradies beschreiben. Michael Hametner
Donnersmarck
Der westdeutsche Adlige Florian Henckel von Donnersmarck wollte einen Film drehen, der von einem „typischen DDR-Dramatiker“ handelt, der von einem typischen Stasi-Offizier überwacht wird. Der Regisseur traf sich mit Christoph Hein, er sollte als Dramatiker-Vorbild dienen und erzählte ihm lange von seinem Leben. In Das Leben der Anderen wurde all das „bunt durcheinandergemischt“ und habe mit seinem Leben nichts zu tun, erklärte Hein in der Süddeutschen Zeitung. Er forderte, seinen Namen aus dem Abspann zu löschen.
Das gut gemachte Melodram gewann einen Oscar, die Ostdeutschen eher nicht. Dagegen Gundermann von Andreas Dresen und Laila Stieler. Ein Film, der ohne Gut und Böse auskommt, Platz für Widersprüche hat. Die Stasi ist auch dort allgegenwärtig, aber nicht allmächtig. Es gab ein selbstbestimmtes Leben in der DDR. Maxi Leinkauf
Jammerossi
„Jammerossi“ – der Begriff war in den 1990ern die Erfindung westdeutscher Siegermentalität (Besserwessis), um die Undankbarkeit der frisch Eingemeindeten zu verspotten. Statt froh zu sein über den Anschluss, die abgehalfterten Zweit-Reihen-Politiker, die verramschten Betriebe und die blühenden Ruinen-Landschaften, wagten die Zonis es, unzufrieden zu sein – und sich als Bürger zweiter Klasse zu fühlen. Der Begriff trifft trotzdem einen Nerv: Viele Ostler*innen haben sich bequem eingerichtet im Klagen und passiver Schicksalsergebenheit.
Gesellschaftliches Engagement bleibt rar, Verantwortung – auch für den Verlauf der Wende – wird delegiert. Für die Demokratie wäre beides heilsam: Westler*innen, die öfters mal die Klappe halten – und Ostler*innen, die öfters mal anpacken, anstatt rumzumaulen (→ Zone). Sebastian Bähr
Ostfrau
Was haben wir nicht über sie gelacht: Die dauergewellte → Zonen-Gaby war einmal Objekt des (West-)Spotts. Jetzt, 35 Jahre nach der Wiedervereinigung, mutiert die Ostfrau, ganz ohne Gurkenbanane, von der Witzfigur zum quasimythischen Wesen: Tickt sie anders als die Westfrau? Wenn ja, woran liegt das nur? An Krippensozialisation und Töpfchenzwang (→ Töpfchenthese)?
An lebenslanger Vollzeitarbeit und ökonomischer Selbstständigkeit? Emanzipiert ist sie, doch hat sie wenig mit Feminismus am Hut. In manchen Teilen des Ostens hat sie heute schon die Nase vorn: Die Gender-Pay-Gap fällt hier und da zu ihren Gunsten aus. Anders als der marktschreierische Ostmann, der sich in weiten Teilen der ländlichen Ostgebiete antidemokratischen Parteien zugewandt hat, scheint bei ihr noch Hoffnung zu bestehen. Zonen-Gaby for the win! Marlen Hobrack
Polemik
Dirk Oschmann sei ein „Verräter der akademischen Zunft“, raunte mir im Sommer 2023 ein Historikerkollege zu. Der Literaturprofessor sei zwar kein Fachmann für das Thema seines Bestsellers, aber das hieße noch lange nicht, dass er so schreiben dürfe. So wütend. So undifferenziert. So polemisch. Oschmanns Streitschrift Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung fand in der Tat viele Kritiker.
Sein angriffslustiger Stil, durchzogen von Anekdoten und Sarkasmus, zeugte von einer emotionalen Aufgewühltheit des Autors, die einigen Kollegen aufstieß. Aber es war gerade Oschmanns ehrliche Wut, die vielen seiner Leser aus der Seele sprach. Sein Buch hielt sich lange auf Platz 1 der Spiegel-Sachbuchbestsellerliste. Das muss man mit einem Ost-West-Buch erst mal schaffen.
Oschmann entschied sich bewusst, Chancenungleichheiten und Diskrimierungsmuster mit Polemik zu thematisieren, und trat damit eine Debatte los, die bis in die Höhen der Politik und in die Wurzeln der Gesellschaft vordrang. Den Text schrieb er nicht als Wissenschaftler, sondern als Mensch. Katja Hoyer
Russland
Darauf war stets Verlass: Am Thema Russland schieden sich in der Redaktion die Geister, ohne dass lupenreine Ost-West-Frontendaraus folgten. Die Frage war, woran hielt man sich? An Russland als Erbe der Sowjetunion, den Befreier vom NS-Regime 1945? Den Staat des historischen Rückzugs 1990, personifiziert durch Michail Gorbatschow und seine Vision vom friedvollen, geeinten Europa? Oder an ein Russland, das als autoritär verworfen wurde, um die eigene demokratische Kultiviertheit auszukosten?
Eine Aversion gegenüber der Macht im Osten hatte den Vorteil, deutscher Geschichte zu entkommen und keinen Gedanken darauf verschwenden zu müssen, dass es bei 27 Millionen Toten nach dem 22. Juni 1941 deutsche Staatsräson sein sollte, dem jederzeit gerecht zu werden. Der Ukraine-Krieg und seine Deutungen verhärteten diese Fronten. Lutz Herden
Töpfchenthese
Krippen-Kinder in der DDR: Emotional nicht satt geworden. Mit dieser Bildunterschrift eines Spiegel-Textes platzte 1999 die „Töpfchenthese“ in die Welt. Darin brachte Christian Pfeiffer, ein Kriminologe aus Hannover, Rechtsextremismus mit früher Sozialisation in Verbindung. „Autoritäre Gruppenerziehung“ habe zu einer „Ich-Schwäche“ geführt, so Pfeiffer. Weil also Krippenkinder gemeinsam nebeneinander auf Töpfchen sitzen mussten, wurden sie als Teenager später zu fremdenfeindlichen Seelenkrüppeln. Das passte ins westliche Bild des alles Individuelle unterdrückenden Kollektivismus und entlastete Diskussionen um Hausfrauen in der Bundesrepublik (→ Ostfrau).
Die „Töpfchenthese“ wurde heftig diskutiert und entwickelte ein mediales Eigenleben. Der Ostler war mal wieder anders. Es ist nur nichts dran an der These. Weitere Studien konnten keinen Zusammenhang zwischen frühkindlicher Betreuung in Tageseinrichtungen und späterer psychischer Belastung feststellen. Aber das Klischee (→ Zone) der geschädigten Kinderseele Ost ist hängengeblieben. Tobias Prüwer
Zone
„Sogar das Klo, Zoni, ist oho, Zoni. Selbst das Klopapier ist besser als bei euch“, so textet die Band Norbert und die Feiglinge im Jahr 1990 ihr Lied Hallo Zoni. Überspitzt ist das, klar, aber nicht ganz falsch. Schon im Jahr der Einheit zeichnete sich ab, dass die Herablassung der Wessis gegenüber ihren neuen Landsfrauen und -männern groteske Züge annehmen konnte.
„Zone“ meinte die Sowjetische Besatzungszone, obwohl die andere Seite der Mauer ja auch besetzt war. Freche und falsche Klischees über die „Zonis“ (→ Töpfchenthese) hielten sich so lang, dass sich Ossis aus Frust darüber heute immer öfter selbst politisch falsch orientieren. „Zu mir jedenfalls kannst du nicht, glaub ja nicht, dass man hier was kriegt, weil so gut geht es uns hier ja nun auch wieder nicht“, so endet Hallo Zoni – und klingt nun erschreckend gesamtdeutsch. Konstantin Nowotny
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Der Freitag wird 35 Jahre alt!
Am 9. November 1990 erschien die erste Ausgabe des Freitag – einer Fusion des ostdeutschen Sonntag und der westdeutschen Volkszeitung. Mit dem Untertitel Die Ost-West-Wochenzeitung begleitete er die deutsche Einheit von Anfang an aus einer kritischen Perspektive.
Wir wollen bloß die Welt verändern: Mit unserem Ringen um die Utopien der Gegenwart, mit unserem lauten Streiten und Nach-Denken, mit den klügsten Stimmen und der Lust am guten Argument finden wir heraus, was es heißt, links zu sein – 1990, die vergangenen 35 Jahre, heute und in Zukunft.
Dazu gratulieren uns Slavoj Žižek und Christoph Hein, Tahsim Durgun und Margot Käßmann, Svenja Flaßpöhler, Sahra Wagenknecht, El Hotzo und viele weitere Interviewpartnerinnen, Autoren und Wegbegleiterinnen des Freitag.
Lesen Sie dies und viel mehr in der Jubiläumsausgabe der Freitag 45/2025 und feiern Sie mit uns!