„Auf trockenen Gräsern“ von Nuri Bilge Ceylan: Out of Istanbul

Ein Dorf im winterlichen Ost-Anatolien. Über Monate liegt alles unter einer schweren Schneedecke, alles Weiß in Grau, der Horizont nicht auszumachen. Das soziale Leben beschränkt sich meist auf Innenräume. Wie ein Punkt in dieser eintönig-kargen Landschaft ist Samet (Deniz Celiloğlu), der widerwillig auf den Ort zustapft, an dessen Schule er seinen Pflichtdienst als Kunstlehrer ableistet. So schön die ersten Bilder in Nuri Bilge Ceylans Drei-Stunden-Epos Auf trockenen Gräsern sind, sie bergen in ihrem vereisten Stillstand bereits etwas Beklemmendes, Unheimliches in sich.

Samet kommt aus den Ferien, es ist sein viertes und hoffentlich letztes Jahr in der Einöde, bevor er nach Istanbul zurückkehren kann. Im Ort scheint er gut integriert zu sein, man begegnet ihm freundlich, ständig wird er zum Tee eingeladen, vom Tierarzt und vom Kommandanten, die Zeit will herumgebracht werden. Samet fühlt sich davon eher genötigt, ihm bleibt das Dorfleben fremd und er den Leuten, auch nach all den Jahren des Ausharrens in der Provinz. Einzig die begabte Schülerin Sevim (Ece Bağci) ist ihm ein Lichtblick, und er fördert die 14-Jährige nach Gutdünken. Einmal schenkt er ihr einen Taschenspiegel. Es soll ihr Geheimnis bleiben.

In immer neuen Schichten legt Ceylan in diesem Mikrokosmos ethische Fragen und gesellschaftliche Themen frei, die nicht bloß angerissen, sondern in oft zwölf, 15 Minuten langen, ausladenden, dabei dichten Dialogen verhandelt werden. Es stellt sich heraus, dass sein Protagonist alles andere ist als ein Held. Auf die ihm unverständlichen Vorwürfe zweier Schülerinnen, die ihn unangemessenen Verhaltens bezichtigen, reagiert Samet wenig souverän. Bei einer Taschenkontrolle wurde ein schwärmerischer Brief der Siebtklässlerin an ihren Lieblingslehrer gefunden; als er zur Rede gestellt wird, reagiert er unwirsch. Er nimmt den Brief an sich, weigert sich später, ihn der Schülerin zurückzugeben, als sie sich in ihrer Not an ihn wendet.

Die Anschuldigungen gegen ihn und seinen Kollegen Kenan (Musab Ekici), mit dem er sich auch eine schummrige Männer-WG-Höhle teilt, schweißen die beiden Empörten zunächst zusammen, dann beschuldigen sie sich gegenseitig. Durch die Bekanntschaft mit Nuray (Merve Dizdar), die in einem Nachbarort als Lehrerin arbeitet, ergibt sich ein neuer Konflikt. Die junge Feministin aus Ankara, die bei einem Attentat ein Bein verlor, wird für Samet erst ab dem Moment als romantische Option interessant, in dem auch Kenan ein Auge auf sie wirft.

Brüllen und beharren

Je weiter Ceylan die Facetten seiner Geschichte und damit seines Protagonisten in all seiner Widersprüchlichkeit auffächert, umso irritierender zeigt sich dessen berechnende Selbstgerechtigkeit. Ein langer Dialog zwischen Nuray und Samet beim Abendessen wird schließlich zum intensiven Schlagabtausch, bei dem sie präzise seziert, wie er die Verhältnisse stets nur bejammert, statt etwas an ihnen zu ändern oder es zumindest zu versuchen.

Es sind stets die Männer in Ceylans Diskurs-Epos, die sich aufgeklärt geben und doch beim kleinsten Widerstand als unreife und egomane Kindsköpfe erweisen, die auf dem Status quo beharren. Vor allem Samet zeigt sich dabei, aller ausgestellten Smartness und Weltgewandtheit zum Trotz, als verbohrt und arrogant. Zunehmend gereizt, brüllt er schon mal die Klasse an, wie sinnlos es sei, ihnen etwas über Kunst beibringen zu wollen, wo sie später doch nur Kartoffeln anbauen würden.

Auf trockenen Gräsern ist Ceylans neunter Spielfilm in 29 Jahren, in denen er eine ganz eigene Handschrift entwickelt hat, ästhetisch wie inhaltlich. In langen Einstellungen mit statischen Bildkompositionen oder langsamen Zooms kreiert er nicht nur ein Filmuniversum, sondern auch einen Diskursraum, in dem Wertvorstellungen und Weltbilder immer wieder neu verhandelt werden, Aufmerksamkeit fordernd und inspirierend. Die Handlung besteht dabei aus alltäglichen Situationen und komplexen Charakterstudien, oft eingebettet in die kargen Landschaften und Wetterlagen Anatoliens. Ceylan wertet dabei nicht, er überlässt es dem Publikum, ein eigenes Urteil zu fällen. Immer wieder geht es ihm um die verschiedenen Lebensentwürfe und Haltungen von Menschen. Filme wie Es war einmal in Anatolien (2011) oder der Goldene-Palme-Gewinner Winterschlaf von 2014 erzählen im Kleinen das Große, sind Mikrokosmos und differenziertes Porträt der türkischen Gesellschaft.

Der neue Film Auf trockenen Gräsern basiert lose auf Tagebüchern und Notizen des 1986 geborenen Autors Akın Aksu, den Ceylan aus seinem Heimatort Çanakkale kennt. Aksu hatte schon das Drehbuch zu Ceylans vorherigem Film Der wilde Birnbaum (2018) mitverfasst, die Geschichte eines jungen Grundschullehrers, der in sein Heimatdorf zurückkehrt und von einem Leben als Schriftsteller träumt, aber keinen Verleger findet, zunehmend sozial isoliert durch die Gegend streift und sich in diverse Gespräche über Gott und die Welt verwickelt. Nach dem Film, der frei von Aksus eigenen Erfahrungen inspiriert war, wurde dieser als Lehrer nach Anatolien versetzt, wo er drei Jahre arbeitete und in der Zeit regelmäßig seine Gedanken und Erlebnisse notierte. Daraus verfasste Ceylan dann das Drehbuch, wie schon beim Birnbaum erneut zusammen mit seiner Frau Ebru Ceylan, die jetzt beim Filmfest in Cannes in der Jury sitzt, wo Auf trockenen Gräsern vor genau einem Jahr uraufgeführt und Merve Dizdar sehr verdient als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde.

Das Ende haben die Ceylans mit sanfter Ironie verfasst. Da ist die Vereisung aufgetaut, zumindest die der Landschaft, in der es nur zwei Jahreszeiten zu geben scheint. In der Sommerbrise bezwingt Samet durch trockenes Gras steigend einen Hügel, sinniert dabei in einem lächerlich hochtrabenden Monolog über die Bürde des Daseins und über Sevim, das Sinnbild einer jungen Frauengeneration in der Türkei, mit mehr Hoffnung und mehr Tatendrang.

Auf trockenen Gräsern Nuri Bilge Ceylan Türkei 2023, 197 Minuten

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