Asylpolitik: Wo bleibt die moralische Integrität jener Grünen?

Schärfere Asylregelungen und eine härtere Gangart in der Migrationspolitik sind nur einige der Gründe, die mich dazu bewegten, meine zweijährige politische Heimat bei den Grünen zu überdenken. Meine Überzeugung, dass Solidarität und Menschlichkeit an erster Stelle stehen müssen, ließ sich mit dieser Entwicklung nicht länger vereinen.

Obwohl ich die Grünen vor einem Jahr verlassen habe, habe ich es Ihnen gewünscht, dass sie es schaffen, sich wieder an ihre Werte zu erinnern. Doch damals wie heute sehe ich die Grünen als eine Partei an, die mehr und mehr von ihren Grundsätzen abweicht. Einmal mehr zeigt sich, dass Macht offenbar mehr wiegt als moralische Prinzipien.

Und auch wenn die Grünen nach wie vor mit der Ikone Petra Kelly werben: Zur Realität gehört auch, dass Petra Kelly heute, im Oktober 2024, unter diesen Bedingungen ganz sicher kein Mitglied mehr bei den Grünen wäre, weil die Partei sich von ihren ursprünglichen, radikalen Idealen hin zu einem pragmatischeren Ansatz in der realen Politik entwickelt hat – ein Wandel, der möglicherweise nicht mit Kellys kompromisslosem Idealismus vereinbar gewesen wäre. Ihre politischen Überzeugungen und ihr Aktivismus in den 1980er Jahren prägten die Partei entscheidend. Kelly würde heute die Grünen dafür kritisieren, dass sie sich zu stark in den Strukturen der etablierten Politik verankert haben und dabei ihre revolutionäre und systemkritische Haltung verloren haben.

Die Grünen gründeten sich 1980 mit einer klaren Mission: Sie wollten eine alternative Stimme in der Politik sein, die sich für den Schutz von Mensch und Natur einsetzt. Diese Gründung war das Ergebnis eines Zusammenschlusses verschiedener Umwelt- und Friedensbewegungen, Bürgerinitiativen sowie sozialer und politischer Gruppen. Die Gründung der Grünen fiel in eine Zeit, in der die Situation der „Gastarbeiter“ in Deutschland zunehmend diskutiert und Migration zu einem gesellschaftlich umstrittenen Thema wurde.

1983 traten die Grünen noch für eine humane Asylpolitik ein

Besonders durch den Suizid des Asylbewerbers Kemals Cemal Altun im Berliner Oberverwaltungsgericht 1983 und die anschließende gesellschaftliche Bestürzung darüber wurde das Menschenrecht auf Asyl ein unantastbarer Bestandteil ihrer Identität. Ihre Position war klar: Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Not fliehen, müssen in Deutschland Schutz finden können. Sie verteidigten das im Grundgesetz verankerte individuelle Recht auf Asyl vehement und traten für eine großzügige und humane Asylpolitik ein.

In Zeiten, in denen die Asyldebatten zunehmend verschärft geführt wurden und andere Parteien längst schärfere Gesetze forderten, standen die Grünen für eine Politik der Offenheit und der Solidarität mit Geflüchteten. Grün stand für eine klar menschenrechtsorientierte Haltung, die Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland und für eine humane Asylpolitik. Diese Positionen standen häufig im Kontrast zu den restriktiveren Haltungen der etablierten Parteien jener Zeit.

Dass nun ausgerechnet aus den grün-mitregierten Ländern Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein Forderungen nach einer verschärften Asylpolitik kommen, führt diese Grundprinzipien ins Absurde. Unter dem Druck steigender Flüchtlingszahlen und einer zunehmend angespannten öffentlichen Meinung scheint die Partei bereit, menschenverachtende Kompromisse einzugehen, die ihren ideellen Werten widersprechen.

Die Forderung der Grünen nach schnelleren Abschiebungen und restriktiveren Regeln für Geflüchtete zeigt eine besorgniserregende Annäherung an die Rhetorik, die sonst eher aus konservativen oder rechten Lagern bekannt ist. Einige prominente Grüne-PolitikerInnen wie Ricarda Lang und Winfried Kretschmann haben öffentlich erklärt, dass bei voller Kapazitätsauslastung die Zahl der Neuankömmlinge reduziert werden müsse. Sie betonen, dass die „Steuerung und Rückführung zur Realität eines Einwanderungslandes wie Deutschland dazugehören“ würden.

Inwieweit sind die Grünen bereit, für ihre Macht ihre Ideale zu opfern?

Auf einem Grünen-Parteitag im letzten Jahr stellten sich jüngere Mitglieder der Partei, wie die Grüne Jugend, vehement gegen die Verschärfungen und kritisierten die aktuelle Regierungspolitik. Die schleswig-holsteinische Integrationsministerin Aminata Touré warnte vor unmenschlichen Verfahren an den EU-Außengrenzen. Doch diese Hoffnung hielt nicht lange, da gleichzeitig Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und andere Fraktionsmitglieder die aktuelle Linie und die Verschärfungen in der Asylpolitik verteidigten, um die Regierungsfähigkeit der Grünen zu wahren.

Die Grünen riskieren damit, als eine Partei wahrgenommen zu werden, die aus Machtkalkül zentrale Überzeugungen aufgibt. Während politische Kompromisse in einem demokratischen System unvermeidlich sind, stellt sich die Frage, inwieweit die Grünen bereit sind, ihre ideellen Fundamente zu opfern. Der ursprüngliche Anspruch der Partei war es, sich gegen den Mainstream zu stellen und für eine gerechtere, nachhaltigere Gesellschaft einzutreten.

Mit meinem Parteiaustritt vor einem Jahr wusste ich spätestens mit der Zustimmung der Basis auf dem besagten Parteitag zum gemeinsamen europäischen Asylrechtsreform (kurz GEAS), dass genau diese Entwicklung eintreten wird. Traditionell positioniert sich die grüne Jugend links der Mutterpartei und fordert häufig radikalere Maßnahmen in den Bereichen Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Antikapitalismus – nun hat der komplette Bundesvorstand der grünen Jugend die Partei verlassen.

Dieser Schritt könnte den Druck auf die Grünen erhöhen, wieder stärker linke Positionen zu vertreten – vor allem, da sich die Partei in den letzten Jahren zunehmend in die Mitte des politischen Spektrums bewegt hat, um regierungsfähig zu bleiben. Diese Orientierung hin zu den Linken könnte die Gräben zwischen der grünen Basis und der Parteiführung vertiefen, aber auch die Debatte um die künftige Ausrichtung der Partei beleben. Dieser Vorstoß signalisiert aber auch eine zunehmende Politisierung junger Mitglieder und den Wunsch nach einer Rückbesinnung auf linke Ideale.

Verantwortungsvolle und solidarische Asylpolitik

Das Vertrauen der WählerInnen ist ein wertvolles Gut, das nicht durch politische Kompromisse oder den Verrat an grundlegenden Prinzipien missbraucht werden darf. Parteimitglieder, die sich weiterhin für eine offene und menschliche Asylpolitik einsetzen, fühlen sich von der aktuellen Führung verraten. Die Grünen waren in ihren Anfangsjahren die Hoffnung für eine menschliche, offene Gesellschaft – Jetzt beugen sie sich dem Druck und springen auf den Zug der Abschottung und Entmenschlichung auf. Ist das ihr Beitrag für ein „besseres“ Deutschland? Menschen in Not abweisen? Es ist absurd und schlichtweg unerträglich, dass ausgerechnet jene, die sich für Klimaschutz und Menschenrechte starkmachten, plötzlich das Mitgefühl verlieren.

Sowohl Bevölkerung als auch PolitikerInnen dürfen diesen Rechtsruck, der sich immer weiter durch die politische Landschaft zieht, nicht hinnehmen. Es wäre fatal, jetzt die Forderungen von Populisten und Nationalisten zu übernehmen. Stattdessen brauchen wir solidarische und humane Lösungen, die sowohl den Menschen in Not als auch unserer Gesellschaft gerecht werden. Kontrolle und Empathie schließen sich nicht aus. Abschottung und Härte führen nur zu mehr Spaltung und Leid. Was für eine Gesellschaft wollen wir sein – eine, die den Schwächsten die Tür vor der Nase zuschlägt, oder eine, die für Gerechtigkeit und Zusammenhalt steht und die Verantwortung da übernimmt, wo das Leid der Menschen anfängt?

Für mich ist klar, dass ich nun eine Partei unterstütze, die sich nicht den politischen Strömungen beugt, sondern standhaft für ihre Ideale eintritt. Die einzige Partei, die in diesem Chaos noch echte Integrität zeigt, ist die Linke. Die Linke fordert legale und sichere Fluchtwege nach Europa, um Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer oder anderen Gefahren zu bewahren. Als zentrale Aufgabe einer humanen Migrationspolitik sieht sie die Bekämpfung von Fluchtgründen: Denn die Hauptursachen für Flucht sind Krieg, Armut, Umweltzerstörung und Ausbeutung, die durch die Politik und Wirtschaft des globalen Nordens, inklusive Deutschland, mitverursacht wird.

Ich habe als Sozialarbeiterin drei Jahre in einer Flüchtlingsunterkunft gearbeitet und sie geleitet. Ich weiß, was es bedeutet, wenn Kommunen allein gelassen werden. Klar ist, dass die Kommunen in Deutschland entlastet werden müssen, denn sie leisten großartige Arbeit. Allerdings kam mir nie in den Sinn, dass die Menschen das Problem sind, sondern die Gründe, warum sie kamen und der hiesige Umgang mit ihnen.

Politik bedeutet Kompromiss. Aber es bedeutet, nicht, seine Werte über Bord zu werfen. Menschlichkeit und Solidarität in der Politik sind nicht nur moralische Verpflichtung, sondern die Grundlage für eine gerechte und friedliche Gesellschaft, in der jeder Mensch die Chance auf ein würdevolles Leben erhält.

Cansin Köktürk, 1993 im Ruhrgebiet geboren, ist Sozialarbeiterin, Autorin, Aktivistin. Sie ist nach Parteiaustritt bei den Grünen vor einem Jahr nun Mitglied bei den Linken und aktuell im Landesvorstand der Linken in Nordrhein-Westfalen. Sie ist Autorin des Buches Unsozialstaat Deutschland (erschienen 2023 im Bastei Lübbe Verlag) und engagiert sich weiterhin für soziale Gerechtigkeit und eine humane Migrationspolitik. Ehrenamtlich setzt sie sich für obdachlose Menschen ein.

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