Astrid Lindgren Memorial Award: Der Nobelpreis dieser Kinderliteratur

Den Literaturnobelpreis hat man Astrid Lindgren nie
verliehen, obwohl viele es zu ihren Lebzeiten forderten. Die schwedische
Kinderbuchautorin kommentierte in den Achtzigerjahren wie so oft mit Humor: Man
solle ihr so ein Schicksal nicht wünschen, an Auszeichnungen habe man schwer zu
schleppen. Sie wusste, wovon sie sprach. Ihrem deutschen Verleger schrieb
Lindgren einige Jahre später, sie würde bald ein Schild an ihrer Tür anbringen:
„Preise werden montags zwischen zwei und drei entgegengenommen.“

Als die weltbekannte Autorin dann aber 2002 nobelpreislos
starb, bekamen die Schweden vielleicht doch ein schlechtes Gewissen. Jedenfalls
wurde noch im selben Jahr von der schwedischen Regierung der Astrid Lindgren
Memorial Award (Alma) ins Leben gerufen und mit fünf Millionen Kronen Preisgeld
ausgestattet, umgerechnet einer halben Million Euro. Es ist bis heute die
höchstdotierte Auszeichnung der Welt in dieser Sparte – sozusagen der
Nobelpreis der Kinderliteratur. Wer den bedeutend älteren internationalen
Hans-Christian-Andersen-Preis bekommt, muss sich mit einer Medaille
zufriedengeben.

Damit es beim Alma neben dem Geld auch Glamour gibt, wird er
jedes Jahr von der schwedischen Kronprinzessin Victoria überreicht. Am Dienstagabend stand die Prinzessin im Konzerthaus in Stockholm in
sommerlich-legerem Outfit, rosa Shirt und langem Rock mit pink-floralem Muster,
auf der Bühne. Man weiß vorher nie, ob sie nur mit ihrer Anwesenheit glänzt oder auch ein paar Worte sagt. Wirkte sie in den ersten Jahren
wie ein freundlich-lächelnder Teil der Bühnendeko, hielt sie später auch schon mal
eine kleine Rede und betonte zum Beispiel, dass die Kinderliteratur zu Unrecht
nicht so richtig ernst genommen werde – schließlich seien
Kinderbücher die ersten Lektüreerlebnisse, die ganze Leben prägen und verändern könnten. 

In diesem Jahr sprach Victoria wieder,
allerdings nicht zum Publikum, sondern nur ein paar persönliche Worte für die
Preisträger. Im Saal sollte die niemand hören. Das Team des Palastes hatte
vorab angeordnet, dass die Prinzessin kein Mikrofon tragen werde. Doch es gab einen königlichen Handschlag, den alle sehen konnten, für Ben Bowen, der aus Australien angereist war.

Ben Bowen, nie gehört? Kein Wunder. Bowen ist weder ein
berühmter Kinderbuchautor noch ein genialer Bilderbuchkünstler – ausgezeichnet
wurde in diesem Jahr die australische Organisation Indigenous Literacy Foundation, kurz ILF.
Ben Bowen ist deren CEO.

„Ich hasse es, Reden zu halten“, sagte Bowen, nachdem der
Applaus verklungen war und die Kronprinzessin ihm die Bühne überlassen hatte.
Zum Glück hätten bereits so viele so viel über die ILF gesagt, dass für ihn
nichts zu sagen mehr übrig sei.

Die Non-Profit-Organisation sorgt seit
2011 dafür, dass die Kinder indigener Communitys in Australien lesen lernen
und mit Büchern versorgt werden. Dafür arbeitet sie mit 427 First-Nation-Gemeinden zusammen. In den vergangenen drei Jahren konnte ILF 300.000 Bücher in
356 teils weit abgelegene Communitys bringen, wo die nächste Bibliothek schon
mal elf Stunden entfernt ist. Und weil die meisten Kinder erst recht noch kein
Buch in ihrer eigenen Sprache gelesen hätten – in Australien gibt es mehr als
250 indigene Sprachen sowie zahlreiche Dialekte – hat die ILF Klassiker wie Die kleine Raupe Nimmersatt in mehr als 30 davon übersetzen lassen. Außerdem
produziert und verbreitet die Organisation Bücher indigener Autorinnen und
Autoren, nicht nur für die Communitys, sondern fürs ganze Land. Im
vergangenen Jahr hat die ILF sogar begonnen, diese Bücher international zu
vermarkten.

Die zwölfköpfige Jury des Alma, in der neben
Literaturwissenschaftlern, Übersetzern, Autoren, Pädagogen und Kritikerinnen
auch ein Urenkel Astrid Lindgrens sitzt, lobte, dass Ben Bowen und sein Team
die Sprache und die Kultur der indigenen Bevölkerung Australiens am Leben
halte. Das wecke bei den Kindern nicht nur die Lust an Literatur, sondern
fördere auch Stolz, Selbstvertrauen und Zugehörigkeitsgefühl: „Jedes Kind hat
das Recht auf seine Sprache und seine Geschichten.“

ILF-Chef Ben Bowen, selbst ein indigener Mann der Wiradjuri
und Gandagarra Nations, sagte ZEIT ONLINE in einem Interview vor der Verleihung: „Indigene Völker,
nicht nur in Australien, sondern auf der ganzen Welt, sind wichtig. Und wir
haben die gleichen Rechte wie jeder andere Mensch, in unseren Sprachen zu
lernen, zu sprechen, zu lesen und unsere Kultur zu leben.“ Seinen Auftritt im
Stockholmer Konzerthaus nutzte er auch, um die Schweden an ihr eigenes
indigenes Volk zu erinnern – die Samen. „Wir sind vom anderen Ende der Welt
hergereist, aber direkt hier, in Ihrem Land, haben wir Menschen getroffen,
deren Geschichten und Erfahrungen uns sehr vertraut sind. Die sollten genauso
gefeiert und unterstützt werden.“

Der Alma ist ein internationaler Preis. Um Kandidaten zu
finden, arbeiten die Schweden mit Kinderbuchaktivisten in aller Welt zusammen,
die der Jury würdige Preisträger aus ihrer Heimat vorschlagen; für Deutschland tun
das unter anderem die Internationale Jugendbibliothek in München und die
Illustratoren Organisation. Für den diesjährigen Alma gingen 245 Vorschläge aus
68 Ländern ein.

Über die ersten beiden Almas durften 2003 Maurice Sendak und
Christine Nöstlinger jubeln, später folgten große Namen wie Philip Pullman,
Jacqueline Woodson oder Shaun Tan. Der bisher einzige deutsche Preisträger war
der Illustrator Wolf Erlbruch, der den meisten durch sein Buch Vom kleinen Maulwurf, der
wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat
bekannt ist. Von den bislang
23 Almas gingen nur drei an eine Organisation – zuletzt an das
Leseförderungsprojekt Praesa aus Südafrika. Nun also die indigenen Geschichten
in Australien.

Die Entscheidung passt in diese Zeit, in der im Kultur- und
Literaturbetrieb zu Recht mehr Sichtbarkeit von Minderheiten gefordert wird und
sich diese als own-voice, also mit eigener Stimme, auch künstlerisch
ausdrücken. So betrachtet hat die Jury eine sehr populäre Entscheidung
getroffen. Es ist aber auch eine mutige, weil komplizierte. Schließlich
ist es viel leichter, eine einzelne Autorin oder einen einzelnen Illustrator
auszuzeichnen, einen großen oder neuen Star, der Interviews gibt und Reden für
mehr Kunstfreiheit und kindliche Kreativität oder gegen Rassismus und
Diskriminierung hält.

Denn natürlich geht es bei einem Preis wie dem Alma immer
auch um Aufmerksamkeit – für einzelne Personen und die Kinderliteratur als
Ganze. Der Preis sorge etwa für mehr Übersetzungen und dafür, dass mehr Kinder
Zugang zu qualitativ hochwertiger Literatur bekämen, heißt es vom
Preiskomitee. 

Und ein bisschen geht es auch darum, dass Astrid Lindgren nicht
vergessen wird. Wir Deutschen sind mit unserer Lindgren-Liebe international outstandig. Die blieb noch als erfolgreiche und sehr gut verdienende
Autorin stets bescheiden. Sie wusste aber, dass Geld sehr nützlich sein und
Gutes bewirken kann und spendete regelmäßig. Sie schickte sogar fremden Menschen
Geld, wenn die ihr Bettelbriefe schrieben.

Die fünf Millionen Kronen Preisgeld seien für den ILF ein
überraschender Geldsegen, sagte Ben Bowen ZEIT ONLINE. Was damit finanziert
werden soll, könne er noch nicht sagen: „Während ich hier in Stockholm bin und
Ihre Frage beantworte, sind viele Menschen bei mir zu Hause unterwegs und
sammeln Ideen ein.“ Bei der Arbeit von ILF würden die Communitys entscheiden, was sie
wollten und brauchten. Bowen wünscht sich neue Perspektiven. Er will weg vom Blick auf
Defizite, von der „Close the Gap„-Strategie, die seine Regierung in vielen
Bereichen propagiere. „Wir sehen immer wieder, dass das Geschichtenerzählen
unseren Gemeinschaften angeboren ist“, sagte er, „und dass es beim
Wechsel vom mündlichen zum schriftlichen Geschichtenerzählen nur um Erfahrung
und Verständnis des neuen Formats geht, nicht um mangelnde Fähigkeiten.“

Ben Bowen sagte auf der Bühne, dass
seine Vorfahren bereits vor mehr als 100.000 Jahren auf diesem Planeten lebten.
Und mit jeder Sprache, die verschwände, gehe der Welt auch Wissen verloren.
„Indigene Völker auf der ganzen Erde verfügen über einzigartige Fähigkeiten und
Erkenntnisse, die in der modernen Welt sehr gefragt sind, zum Beispiel, weil
wir alle mit dem Klimawandel konfrontiert sind“, sagte Bowen ZEIT ONLINE. Wenn
auch die Mehrheitsgesellschaften die indigenen Völker wertschätzten und sich
für sie interessierten, werde die Weltgemeinschaft die Zukunft besser gestalten
können. „Gemeinsam.“

Den Literaturnobelpreis hat man Astrid Lindgren nie
verliehen, obwohl viele es zu ihren Lebzeiten forderten. Die schwedische
Kinderbuchautorin kommentierte in den Achtzigerjahren wie so oft mit Humor: Man
solle ihr so ein Schicksal nicht wünschen, an Auszeichnungen habe man schwer zu
schleppen. Sie wusste, wovon sie sprach. Ihrem deutschen Verleger schrieb
Lindgren einige Jahre später, sie würde bald ein Schild an ihrer Tür anbringen:
„Preise werden montags zwischen zwei und drei entgegengenommen.“

Als die weltbekannte Autorin dann aber 2002 nobelpreislos
starb, bekamen die Schweden vielleicht doch ein schlechtes Gewissen. Jedenfalls
wurde noch im selben Jahr von der schwedischen Regierung der Astrid Lindgren
Memorial Award (Alma) ins Leben gerufen und mit fünf Millionen Kronen Preisgeld
ausgestattet, umgerechnet einer halben Million Euro. Es ist bis heute die
höchstdotierte Auszeichnung der Welt in dieser Sparte – sozusagen der
Nobelpreis der Kinderliteratur. Wer den bedeutend älteren internationalen
Hans-Christian-Andersen-Preis bekommt, muss sich mit einer Medaille
zufriedengeben.

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