Explodierende Preise trotz Leerstand, fehlendes Bauland, wachsende Urbanisierung: Trotz großer Nöte geht wenig voran beim Wohnungsbau. Dabei ließe sich vom Plattenbau der DDR gerade jetzt so einiges abschauen
Es ist so eine Sache mit dem Wohnungsbau, wir finden ihn zu teuer, zu sehr reguliert, es wird zu viel auf engem Raum gebaut, zu viel grade bei uns in der Nachbarschaft, oder zu viel in die Fläche. Wir schauen missgünstig auf ausfransende Dörfer, aber so ein Häuschen im Grünen, wo einem möglichst kein Nachbar durchs Bild latscht, wäre toll. Werden doch Wohnungen gebaut, vielleicht sogar mit gedeckelter Miete und nach sozialen Kriterien vergeben, klagen wir, weil wir ja schon vorher da gebaut haben, das neue Haus nebenan nimmt uns jetzt Sicht und Sonnenstunden. Die neuen Nachbarn unsere Parkplätze. Vor allem aber, fürchten wir, verlieren unsere Grundstücke an Wert.
Wert ist ein gutes Stichwort; wenn wir Wohnungen in Städten leer stehen lassen, nutzen sie sich nicht ab, ihr Anlagewert steigt stetig, wie reizend. Städte und Kommunen wollen, dass viel gebaut wird, geben aber nur mit spitzen Fingern Bauland frei, auf dass es nicht günstig werde und sie Werte für den nächsten Haushalt vernichten. Außerdem wollen sie oft nicht selber investieren, haben keine Stellen für Menschen ausgeschrieben, die planen können: schlanke Verwaltung. Oder sie sind schon pleite. Dann übernehmen Investoren gleich die Planung mit, so sieht das dann auch aus: wie das Alexa-Kaufhaus in Berlin nämlich, ein Zahnschmerz als Gebäude.
Dort, wo es günstig wäre, könnte man bauen, da wollen wir aber nicht wohnen, das wäre eben in Eisenhüttenstadt. Oder wir wollen auf keinen Fall, dass gebaut wird, in Berlin zum Beispiel am Rand des Tempelhofer Feldes – irgendetwas fehlt da, politischer Wille, oder irgendwer wird da gestört, wir zum Beispiel, beim Kiffen, wenn wir am Abend lange in die untergehende Sonne schauen und sagen: „Ach, wie schön.“ Dann vögeln wir ein bisschen zwischen Hochbeeten, werden schwanger, freuen uns über Familie, brauchen größere Wohnungen, oder die WG hält es nicht mehr mit uns aus.
Wohnungsbau in der DDR war eine soziale Notwendigkeit
All das und noch sehr viel mehr hat dazu geführt, dass der Preisindex für baureife Grundstücke ab 100 Quadratmeter zwischen 2010 und 2020 um 102 Prozent gestiegen ist. Für die ganze Republik, inklusive Eisenhüttenstadt. Der Häuserpreisindex ist in den vergangenen vier Quartalen allein um je über zehn Prozent gestiegen. Der Baukostenindex für Wohngebäude in Deutschland hat eine Art Eiger-Nordwand-Struktur – 2015 ist der Indexwert auf 100 festgelegt worden, im vergangenen Jahr stieg er auf 119,9, im vergangenen Februar auf 138,1. Im Unterschied zum Eiger fällt er aber nicht wieder ab, ein Gipfel ist nicht abzusehen.
Die Sache mit dem Wohnungsbau ist also, dass man es kaum je genügend Menschen recht machen kann, oder eben nicht denen, die genügend politisches Gewicht haben. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum wir zum Beispiel noch nie etwas von einem 100-Milliarden-Euro-Wohnungsbau-Sondervermögen gehört haben. Ach, und mit Sozialbauten verdienen Investoren eben nicht genug, das muss man doch einsehen.
Hervorragender Zeitpunkt also, sich die beiden fantastischen Bände Vom seriellen Plattenbau zur komplexen Großsiedlung. Industrieller Wohnungsbau in der DDR anzuschaffen. Dazu gibt es noch den hervorragenden Interview-Begleitband mit dem Titel Architektur und Städtebau in der DDR. Stimmen und Erinnerungen aus vier Jahrzehnten. Damit lernen wir schnell, dass Wohnungsbau in der DDR eine soziale Notwendigkeit war, eine existenzielle politische Entscheidung, planerisches Chaos, eine fortwährende Mängelverwaltung, Qualitätsprobleme, ein Gerangel um Vormacht zwischen Planer*innen, Architekt*innen und politischen Stellen. Auch wenn die Politik allen das Leben schwer machte, klappte etwas, das heute wie die Erzählung aus einem Städtebau-Pleistozän klingt. Nach einer Experimentierphase bis ungefähr 1961 bauten in der DDR allerlei Wohnungsbaukollektive mit vorgefertigten Systemen günstig über eineinhalb Millionen Wohnungen – bis die Bürger*innen keine Lust mehr auf den Staat hatten und er kollabierte.
Zwei wesentliche Entscheidungen lagen dem Programm zugrunde – Ende 1954 hatte die Sowjetunion die Umstellung des Bauwesens auf industrielle Produktionsweise beschlossen. Die DDR musste nachziehen. Damit war die Baumethode vorgezeichnet: weg von den Mauerwerksbauten hin zu Vorfertigung und serieller Produktion (was nicht dasselbe ist) und der industriellen Montage vor Ort. Das verstand sich gut mit der Moderne-Vorstellung, die tief im Inneren der Planwirtschaft pochte – die einer wachstumsorientierten Industriegesellschaft nämlich. In der wurde, mit den Worten des westdeutschen Plattenbau-Bauingenieurs Robert von Halász, auch die Industrialisierung der Bauwirtschaft „zu einer ethischen Aufgabe“.
Den zweiten Entschluss verabschiedete das SED-Zentralkomitee im Oktober 1973, nämlich eine „Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem“: Bis 1990 sollte allen Bürger*innen eine Wohnung zur Verfügung stehen. Dafür musste die DDR das System eines geschlossenen Bausystems aus der Sowjetunion beziehungsweise aus Frankreich übernehmen und vor Ort anpassen. Es bedurfte einer „absoluten Vorplanung“ aller Schritte der Wertschöpfungskette: Entwicklung, Bau der Fertigteile, Organisation von Hubwerkzeugen und überhaupt der Baustellen. Außerdem Montage mit all den Zipperlein, die langsam reifende Technik so haben kann.
Davon erzählt der erste Band, wir lernen Bauformen zu unterscheiden, vollziehen die Entwicklung der Typen nach, tragende Wände rücken von außen nach innen. Die Platten mussten geformt werden, sauber „ausgeschalt“ und transportiert werden können, davon künden Zeichnungen und Fotos – ein Fest, gegen das all die Architekturpornobände über individuelle Baulösungen wie dünne Fähnchen aussehen: Hier wurden Probleme einer ganzen Gesellschaft angegangen, bis die Wohnungsbauserie 70 wenn nicht alle, so doch die allermeisten Fragen beantworten sollte.
Die Klimabilanz ist gut
Mit der WBS 70 wollten DDR-Planer*innen unterschiedliche Gebäudeformen aus einem reduzierten Baukasten bedienen, funktionell und effizient gedachte Lösungen für eine komplexe Gesellschaft bieten. Abwechslungsreich und variabel sollte es auch noch sein. Aus ihr wurden die berüchtigten Großwohnsiedlungen gebaut, Schulgebäude, aber auch Lücken in Innenstädten mit niedrigen Bauten geschlossen. Der zweite Band erzählt mehr über ihre stadtplanerischen Qualitäten – von Eisenhüttenstadt bis Berlin-Marzahn.
Die WBS 70 ist also eine Art Schweizer Taschenmesser für Wohnungsbau und Stadtplanung. Und wer mag schon Schweizer Taschenmesser nicht? Die Antwort lautet: wir.
Tatsächlich gibt es Probleme: Expert*innen, die Plattenbauten sanieren, erzählen, dass sie auf die Jahresringe der Fertigung schauen – je knapper die DDR bei Kasse war, desto mehr wurde bei der Fertigung gepfuscht und desto bröseliger ist der Beton heute. Allerdings sei die Klimabilanz gut, die Platte hält sich, vor allem in der WBS-70-Reihe lassen sich Bauteile leicht auswechseln. Aber funktionale Betrachtung interessiert kaum: Diskussionen über Probleme mit Nasszellen – man kann sie schlecht altersgerecht machen, weil sich keine barrierefreien Duschtassen einbauen lassen – sind eher nichts fürs Feuilleton.
Der Ablehnung der Platte kann man kaum mit Hinweisen auf ihre ästhetische Vielfalt, die die Bände dokumentieren, begegnen. Ihr kommt man auf die Spur, wenn man die Ideologie herausschmeckt, die die DDR dem Beton beimischte: Steffen Mau, aufgewachsen in einer Plattenbausiedlung, arbeitete in seiner Untersuchung zu Lütten Klein nebenbei auch den Kern der heutigen Aversion heraus: DDR-Neubaugebiete bedeuteten, dass das politische System ein Leitbild der Vereinheitlichung vorschrieb und in Stein und Stadt formte. „Damit wurde ein städtebaulich verankertes Bezugssystem für die durch die Bürger zu erfüllenden gesellschaftlichen Rollen geschaffen, das auf Zusammenfügen und Konformismus, nicht auf Ausdifferenzierung und Individualisierung ausgerichtet war.“ Über so etwas schütteln wir den Kopf in unseren Einfamilienhäusern. Die werden vorgefertigt und in Serie gebaut, deshalb sind sie hübsch billig. Aber wir haben uns dafür entschieden, ganz individuell.
Vom seriellen Plattenbau zur komplexen Großsiedlung Philipp Meuser (Hg.) DOM Publishers 2022, 2 Bde., 736 S., 950 Abb., 78 €
Architektur und Städtebau in der DDR. Stimmen und Erinnerungen aus vier Jahrzehnten Arnold Bartetzky, Nicolas Karpf, Greta Paulsen (Hrsg.) DOM 2022, 272 S., 28 €
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