Kurz nach dem Massenmordanschlag auf die jüdische Gemeinde Australiens am Sonntag erklärte Rabbi Levi Wolff von der Central Sydney Synagogue in Australien gegenüber Reportern, dass „das Unvermeidliche nun eingetreten ist“.
Wolff sprach in Bondi, in der Nähe des Ortes, an dem zwei bewaffnete Männer eine Feier zum jüdischen Lichterfest Chanukka angegriffen hatten. Mindestens 16 Menschen wurden getötet, darunter ein mutmaßlicher Schütze, und Dutzende wurden bei der tödlichsten Massenerschießung in Australien seit fast drei Jahrzehnten verletzt.
Die Worte des Rabbi werden bei Vertretern der jüdischen Gemeinde in Australien und auf der ganzen Welt, die die Politik vor der offensichtlichen und unmittelbaren Gefahr eines solchen Angriffs gewarnt haben, auf Resonanz stoßen. Experten weisen darauf hin, dass Antisemitismus bereits vor dem blutigen Konflikt in Gaza nach dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 weit verbreitet war.
1.654 antijüdische Vorfälle in Australien 2025
Der tödlichste Angriff auf die jüdische Gemeinde in den USA ereignete sich beispielsweise 2018. Fünf Jahre später, 2023, bezeichnete Michael O’Flaherty, der Direktor der EU-Agentur für Grundrechte, den Hass als „tief verwurzelten Rassismus in der europäischen Gesellschaft“ und als existenzielle Bedrohung für die jüdische Gemeinde des Kontinents. Es besteht kein Zweifel daran, dass solche Tendenzen durch den Konflikt im Nahen Osten dramatisch verstärkt wurden.
In den USA meldete die Anti-Defamation League im Jahr 2024 9.354 antisemitische Vorfälle, die höchste Zahl seit Beginn ihrer Aufzeichnungen im Jahr 1979. Zum ersten Mal enthielt die Mehrheit „Elemente, die mit Israel oder dem Zionismus in Verbindung standen“.
In Australien verzeichnete der Exekutivrat der australischen Juden (ECAJ) in den vergangenen 12 Monaten insgesamt 1.654 antijüdische Vorfälle, etwa dreimal so viele wie in jedem Jahr vor dem Krieg im Gazastreifen. In einem Bericht Anfang dieses Monats erklärte der ECAJ, dass antijüdischer Rassismus nicht mehr nur am Rande der Gesellschaft stattfinde, sondern Teil des Mainstreams geworden sei, mit einer „zunehmenden ideologischen Annäherung zwischen Neonazis, der antiisraelischen Linken und Islamisten“.
Antisemitismus als Prozess der Entmenschlichung
Terrorismusexperten wissen, dass Radikalisierung nicht in einem Vakuum stattfindet. Solche Gewalt bleibt eine soziale Aktivität, die breitere Trends widerspiegelt. Das bedeutet, dass selbst relativ geringfügige Vorfälle von Rassenhass – hasserfüllte Graffiti, rassistische Beleidigungen auf der Straße und Ähnliches – auf etwas Tieferes und Gefährlicheres hindeuten.
Die Zielfernrohre, die die Angreifer von Bondi verwendeten, hätten jedes ihrer Opfer deutlich sichtbar gemacht – beim Reden, Lachen, Aufpassen auf Kinder, Begrüßen von Freunden, Umarmen von Verwandten bei einem der freudigsten Ereignisse im jüdischen Religionskalender, Chanukka.
Das Drücken des Abzugs wäre das Ende eines Prozesses der Entmenschlichung gewesen, der beginnt, lange bevor Hakenkreuze an die Wände von Synagogen gemalt oder Schulkinder an einer Bushaltestelle beleidigt werden.
Radikalisierung während des Gaza-Kriegs
Sicherheitsbeamte warnen seit einiger Zeit, dass der Gaza-Konflikt eine Welle der extremistischen Radikalisierung in der islamischen Welt und weit darüber hinaus ausgelöst hat. Im vergangenen Jahr sagte die damalige US-Direktorin für nationale Sicherheit, Avril Haines, der Krieg werde „generationsübergreifende Auswirkungen auf den Terrorismus haben”.
Der jüngste Bericht des UN-Ausschusses, der die Sanktionen gegen Mitglieder von Al-Qaida und dem Islamischen Staat überwacht, stellte fest, dass „der Gaza- und Israel-Konflikt“ nach wie vor eine wichtige Rolle in der terroristischen Propaganda spielt und dass „es in den USA mehrere mutmaßliche Terroranschlagspläne gab, die größtenteils durch den Gaza- und Israel-Konflikt oder durch Personen motiviert waren, die von [IS] inspiriert und radikalisiert wurden“.
Dies wird ein Schwerpunkt der Ermittlungen sein.
Die Rolle des Iran und des Islamischen Staates
Es gab einige Vermutungen, dass der Iran, der offenbar hinter einigen früheren antisemitischen Anschlägen in Australien stand, dafür verantwortlich sein könnte. Dies wäre jedoch eine dramatische Eskalation und Abkehr von den jüngsten Taktiken iranischer Agenten und daher unwahrscheinlich.
Auch britische Beamte tauschen über das Sicherheitsbündnis „Five Eyes“ Informationen mit ihren australischen Kollegen aus und haben wahrscheinlich ihre eigenen Bedenken hinsichtlich der Gewalt gegen jüdische Gemeinden nach den jüngsten Vorfällen in Großbritannien weitergegeben. Der 35-jährige Jihad A. soll dem IS die Treue geschworen haben, bevor er im Oktober während des jüdischen Jom-Kippur-Festes eine Synagoge in Manchester angriff, wobei zwei Gläubige ums Leben kamen.
In der Folge veröffentlichte Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) in einem über soziale Medien verbreiteten Online-Magazin einen neuen Aufruf zu den Waffen und forderte Muslime im Westen auf, dem Beispiel von al-Shamie zu folgen.
AQAP, die über eine bedeutende Propagandareichweite und internationale Ambitionen verfügt, rief zu weiterer Gewalt gegen jüdische Gemeinden auf und gab angehenden Attentätern detaillierte Ratschläge ihres „Lone Jihad Guide Team“ (Team für den einsamen Dschihad).
Auch der antisemitische Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 fand an Jom Kippur statt, dem höchsten jüdischen Feiertag.
Ein unbestätigter Bericht eines Zeugen, wonach die Mörder in Sydney eine „schwarze Flagge mit einem Emblem darauf“ gezeigt hätten, wird für die Ermittler von Interesse sein, da dies auf eine Zugehörigkeit zum IS hindeuten könnte. Bislang gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass die Organisation in irgendeiner Weise mit den schrecklichen Ereignissen vom Sonntag in Verbindung steht.
Im Moment herrscht lediglich das Gefühl einer vorhersehbaren Tragödie. „Das ist die schlimmste Befürchtung der jüdischen Gemeinde“, sagte Alex Ryvchin, Co-CEO der ECAJ, gegenüber Sky News. „Es brodelte schon lange unter der Oberfläche, und jetzt ist es tatsächlich passiert.“