Antisemitismus im Kulturbetrieb: Es fehlten zwei Leute, mindestens

Ganz am Ende der Diskussion wird klar, dass mit ihr noch
nicht einmal ein Anfang gemacht ist. Dass man nach einem doch recht
verunglückten 50-Minuten-Podium erst eine Ahnung davon hat, welche Grundlagen
das Gespräch über Antisemitismus im Kulturbetrieb braucht, um überhaupt zu
einem Bewusstsein dafür kommen zu können, was auf dem Spiel steht. An
Kunstfreiheit einerseits und dem Schutz jüdischen Lebens in Deutschland
andererseits.

Als der Berliner Kultursenator Joe Chialo bei einer Diskussion mit
dem Titel „Antisemitismus im Kulturbetrieb?“ im Rahmen des Berliner
Bücherfestes am Samstagnachmittag abschließend noch einmal anmahnt, die
Demokratie brauche auch „eine Sanktionsfähigkeit und eine Stärke“,
wird einem nur allzu schmerzlich bewusst, dass noch überhaupt nicht klar ist,
wie diese Stärke richtig eingesetzt ist und wie weit Sanktionen dafür gehen
dürfen. 

Mehr Zeit wäre dafür schön gewesen – und weniger rein physische Hitze in einem Festzelt auf dem Berliner Bebelplatz. Die Idee der mitveranstaltenden Schriftstellervereinigung PEN Berlin mag richtig gewesen sein, hier am Ort der NS-Bücherverbrennungen und bei einem sonnigen Marktfest des geschriebenen Wortes zusammenzukommen – zwischen Standreihen und Touristinnen im Herzen Berlins. Doppelt richtig ist der Ort, weil er vis-à-vis dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität liegt. Immerhin wurde die Hochschule zuletzt von aggressiv israelfeindlichen Protesten erschüttert. Das macht die Sache zugleich etwas angespannt: Wird das hier ohne Störungen über die Bühne gehen, ohne Niederschreien und unsägliche Parolen? 

Der Blick Richtung Humboldt-Universität

Man ist sich dann relativ schnell sicher, dass immerhin das
klappt. Sehr präsent umsteht die Security des Senators das Zelt, sehr friedlich
und ohne aktivistische Erkennungszeichen wie Fahnen, Tücher und Farben sitzt
drinnen ein eher kulturbetrieblerisches Publikum in den Stuhlreihen. Sehr zivil
– mit viel Applaus und wenigen Buhrufen – äußern sich hier auch etwa
gleich große Lager, falls sich die überhaupt identifizieren lassen. 

Die einen
sind gekommen, um der Hamburger Soziologin Teresa Koloma Beck den Rücken zu
stärken. Sie hegt erwartungsgemäß Zweifel gegenüber Eingriffen in Kunst- und
Wissenschaftsfreiheit und will auch das generelle Framing pazifistischer oder
propalästinensischer Agitation als latent antisemitisch so nicht stehen lassen.
Andere im Publikum wollen die mutmaßliche Verharmlosung dieser Agitation nicht
hinnehmen, ihre Zustimmung findet auf dem Podium allerdings kein eindeutiges
Ziel. 

Das mag einen zunächst ein bisschen überraschen. Immerhin sitzen dort mit Chialo, dem Welt-Journalisten und PEN-Berlin-Vorsitzenden Deniz Yücel und dem Moderator der Runde, dem Journalisten und Autor Jens Balzer, der auch für die ZEIT und ZEIT ONLINE schreibt, gleich drei Männer, die man eher nicht im Lager der sogenannten Israel-Kritik verortet. Doch sogar am lebhaftesten wird es, wenn Yücel und Chialo sich über Chialos anti-antisemitische Kulturpolitik streiten.

Zur Erinnerung: Chialo war es, der zu Jahresanfang mit einer (allerdings nicht von Chialo) sogenannten Antisemitismusklausel sicherstellen wollte, dass keine Finanzmittel des Landes Berlin an Künstlerinnen und Institutionen fließen, die nach der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) dem Antisemitismus Vorschub leisten. Das scheiterte zunächst an rechtlichen Bedenken, man will es – daran ließ Chialo auch auf dem Bebelplatz keinen Zweifel – aber bei nächster Gelegenheit neu und potenziell rechtssicher wieder versuchen. 

Zudem entbrannte rund um den ersten Vorstoß Chialos im Winter eine Debatte, da die besagte Definition explizit „Erscheinungsformen von Antisemitismus“ beinhaltet, die sich „gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird“, richten. Wie aber, so ließe sich die Kritik an dieser Definition in sehr einfache Fragen fassen, erkennt man das jüdische Kollektiv in Fremdzuschreibungen? Beginnt dieser Antisemitismus schon dort, wo die Kritik an israelischer Politik das Interesse an vergleichbaren Konflikten auf der Welt klar überwiegt? Ist schon die spezielle Hinwendung obsessiv, also antisemitisch? 

Dann haben Teile der deutschen Linken und auch Teile des globalen Kunst- und Kulturbetriebs wohl ein Problem. Zugleich gilt, zumal in Deutschland und vor dem Hintergrund von Artikel 5 des Grundgesetzes: Wer möchte die einzelne Künstlerin – am Ende gar eine jüdische aus einem anderen Land, am Ende gar aus Israel – dafür maßregeln, dass sie ein besonderes Augenmerk auf die Lage der Palästinenserinnen in den Autonomiegebieten richtet? Das Ganze geht weiter: Ist die Zuschreibung „Apartheid“ per se problematisch, oder beschreibt sie ganz korrekt einen Zustand räumlicher Trennung bei sehr ungleich verteilten Ressourcen? 

Ganz am Ende der Diskussion wird klar, dass mit ihr noch
nicht einmal ein Anfang gemacht ist. Dass man nach einem doch recht
verunglückten 50-Minuten-Podium erst eine Ahnung davon hat, welche Grundlagen
das Gespräch über Antisemitismus im Kulturbetrieb braucht, um überhaupt zu
einem Bewusstsein dafür kommen zu können, was auf dem Spiel steht. An
Kunstfreiheit einerseits und dem Schutz jüdischen Lebens in Deutschland
andererseits.

Als der Berliner Kultursenator Joe Chialo bei einer Diskussion mit
dem Titel „Antisemitismus im Kulturbetrieb?“ im Rahmen des Berliner
Bücherfestes am Samstagnachmittag abschließend noch einmal anmahnt, die
Demokratie brauche auch „eine Sanktionsfähigkeit und eine Stärke“,
wird einem nur allzu schmerzlich bewusst, dass noch überhaupt nicht klar ist,
wie diese Stärke richtig eingesetzt ist und wie weit Sanktionen dafür gehen
dürfen. 

AntisemitismusBeckBerlinChialoDemokratieDenizDeutschlandEndeHintergrundHolocaustIsraelJensJoeKritikKulturKunstMANPenPolitikRechtWeilWELTZeit