Angela Merkel: Kanzlerschaft im Zwielicht

Die Beurteilung der Kanzlerschaft Angela Merkels aus wirtschaftlicher Sicht muss einen Bogen spannen zwischen dem wohligen Gefühl, das heute offenbar noch viele Zeitgenossen in Erinnerung an ihre aktive Zeit empfinden, und der aktuellen Eiseskälte, zu der ihr politisches Erbe erheblich beiträgt. Die Merkel-Zeit ist Geschichte; die Bewältigung der heutigen Herausforderungen erfordert ein energisches wirtschaftspolitisches Umsteuern. Dafür muss aber nicht nur die Politik dem Merkel-Stil entsagen; für nicht geringe Teile der Bevölkerung gilt es Abschied zu nehmen von liebgewordenen Lebenslügen.

Aus wirtschaftlicher Sicht hatten die Merkel-Jahre bei vielen Menschen ein wohliges Gefühl erzeugt. Deutschland war besser durch die Finanz- und die Eurokrise gekommen als andere Länder. In den Zehnerjahren wuchs die Wirtschaft bei niedriger Inflation. Die Zahl der Beschäftigten erreichte einen historischen Höchststand, exorbitante Leistungsbilanzüberschüsse wurden als Zeichen einer kraftstrotzenden (Export-)Wirtschaft gedeutet. Die Verschuldungsquote, das Verhältnis von Staatsverschuldung zur Wirtschaftsleistung, ging deutlich zurück.

Diese unbestreitbaren Aktivposten der Bilanz gingen jedoch einher mit – ausweislich der Demoskopie – von einem erheblichen Teil der Bevölkerung mitgetragenen Wegmarken, deren verheerende Folgen erst viel später erkennbar waren. Diese Fehlentscheidungen gestatten das harte Urteil einer zumindest in Teilen gescheiterten Kanzlerschaft.

„German Angst“ als Treiber der Politik

Der Atomausstieg war ein wichtiger Bestandteil einer weitgehend fehlgeleiteten Energiepolitik. Er fand Unterstützung durch die allgegenwärtige „German Angst“, die damals die Kernschmelze, heute Atombombenabwürfe durch den Russen und morgen den Blackout der deutschen Stromversorgung fürchtet. Die jahrelange Präferenz für einen Ausbau des Sozialstaats zulasten von Investitionen unter anderem in die Infrastruktur lastet heute schwer auf dem Land. Aber sie war damals nicht unpopulär, weil sich, wie die Politische Ökonomie seit langem lehrt, eine alternde Gesellschaft eher für Transfers als für Zukunftsprojekte interessiert.

Das Nachlassen der Infrastruktur, das schon damals häufig thematisiert wurde, verdrängten viele Menschen daher solange, bis vor ihren Augen Brücken zusammenfielen und die Eisenbahn für Stunden auf dem Gleis stehenblieb. Der unselige Wettstreit der damaligen Großkoalitionäre um die expansivste Konzeption von Sozialpolitik wurde dagegen als eine Notwendigkeit betrachtet, die sich ein reiches Land wie Deutschland leisten können sollte.

Diskussion muss sich lösen von der Merkel-Zeit

Auf keinen lauten öffentlichen Protest stieß die Entscheidung, die Verteidigung Deutschlands überwiegend den Vereinigten Staaten zu überlassen und die schon damals unzureichend ausgerüstete Bundeswehr nicht grundlegend zu erneuern. Der größte Gasspeicher wurde an Gazprom verkauft, Nord Stream 2 als Beitrag zum deutschen Wirtschaftserfolg gefeiert. An Sanktionen gegen ein schon damals aggressives Russland besaß nicht nur die „Moskau-Connection“ der SPD, sondern auch die Wirtschaft kein Interesse. Ihr Ostausschuss war, man glaubt es heute kaum mehr, damals eine Macht.

Für die strategischen Fehlentscheidungen in ihrer Amtszeit trägt die Kanzlerin ebenso die Verantwortung wie für Entscheidungen, die sich als glücklicher erwiesen haben. Politik besteht auch darin, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn sie notwendig erscheinen. Ihre hochmütig-herablassende Haltung des „je ne regrette rien“ hat wie so manches andere aus den Merkel-Jahren längst Staub angesetzt. Dieser Zeit entweder nachzutrauern oder sie auf ewig zu verfluchen ist heute nicht mehr als eine unnütze Ablenkung: Diskutiert und verwirklicht werden muss der Aufbruch in eine andere Zukunft.

Die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen haben sich seit dem Ende der Kanzlerschaft Merkel erheblich zum Nachteil Deutschlands geändert. Die deutsche Wirtschaft, die lange ungeheuer stark und unverletzlich erschien, steht vor enormen Herausforderungen. Noch immer existiert in Teilen der Politik die Illusion, es wäre möglich, die Aufgaben ohne Zumutungen zu bewältigen. So soll aus der Sicht des Kanzlers eine Zunahme der Staatsverschuldung, die nur vermeintlich ohne schädliche Nebenwirkungen zu haben ist, die Finanzierung der Zukunft gewährleisten, ohne vielen Wählern weh zu tun. Es steht zu hoffen, dass eine Mehrheit der Menschen erkennt, dass dieses Wunschdenken einer fern anmutenden Vergangenheit entstammt – wie die Erinnerungen der Kanzlerin.

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