An Bord dieser Harry Sulfur. Truman: Wenn eine Kleinstadt durch die Nordsee schwimmt

Das Deck der USS Harry S. Truman vibriert, als die ersten Kampfflugzeuge von dem amerikanischen Flugzeugträger katapultiert werden. Die schwimmende Luftwaffenbasis fährt derzeit durch die Nordsee, weit vor der schottischen Küste, die genaue Route ist geheim. Der NATO-Einsatz „Neptune Strike 2024“ hat begonnen.

Das Bündnis will damit seine Stärke auf hoher See demonstrieren, das Zusammenspiel verschiedener maritimer Kampfgruppen. Rund 20 Kriegsschiffe und U-Boote, 22 Staaten und 15.000 Personen sind beteiligt. Neben dem amerikanischen Flugzeugträger ist auch die britische HMS Prince of Wales im Einsatz. „Neptune Strike“ erstreckt sich vom Mittelmeer und der Adria bis zur Nord- und Ostsee.

Als Ausgangspunkt für rund 60 Flugzeuge spielt die Harry S. Truman, die nun für einige Tage unter operationaler Kon­trolle der NATO fährt, eine wichtige Rolle. Das 330 Meter lange, nuklearbetriebene Schiff erinnert an eine Kleinstadt. In den weitläufigen Gängen unter Deck kann man sich schnell verlaufen. Über Treppen, Leitern und Abzweigungen geht es an Kajüten, Kombüsen und Arbeitsräumen vorbei. Einige Besatzungsmitglieder sitzen vor ihren Computern, andere schauen in ihrer Pause den Film „Iron Man“ oder hören Musik.

Zehn Friseure und fünf Zahnärzte

Auch wenn man hier eine Woche unterwegs sei, entdecke man noch Neues, sagt eine NATO-Sprecherin. Es gibt zehn Friseure, sechs „Restaurants“, einen Starbucks und fünf Zahnärzte. Für die gut 5000 Seeleute an Bord ist der Flugzeugträger zumindest für eine Zeit lang ihr Zuhause, mindestens ein halbes Jahr lang sind sie im Einsatz auf See. In dem riesigen Hangar finden nicht nur Wartungsarbeiten statt. Dort werden auch Zumba-Kurse, Salsa-Stunden und ein Kampfkunst-Training angeboten und auch Dodgeball-Turniere ausgerichtet.

Das breite Freizeitangebot soll offenbar einen Ausgleich bieten zu der beschwerlichen Arbeit an Bord. „Es ist harte Arbeit. Es ist so viel Arbeit“, sagt Justina Bauman. Sie steht vor einer F/A-18 Hornet, an der sie zuvor rumgeschraubt hatte. Die 23 Jahre alte Amerikanerin ist seit zweieinhalb Jahren auf der Harry S. Truman als Mechanikerin unterwegs. Sie und ihr Team sind dafür verantwortlich, zwölf Kampfflugzeuge, ein Geschwader, instand zu halten und zu reparieren. „Unsere Aufgabe ist es, sie in die Luft zu bringen“, sagt Bauman. Es seien lange und kräftezehrende Tage. Sie bekomme nur wenig Sonnenlicht ab: „Das können auch mal mehrere Tage unter Deck sein.“ Doch letztlich lohne sich die Arbeit, „weil wir unsere Piloten schützen und unseren Flugzeugträger verteidigen“.

„Ich will nächstes Jahr das Oktoberfest besuchen“

Bauman trägt auf ihrer Uniform eine deutsche Flagge. Ihre Großeltern stammten aus Deutschland, sagt sie, sie seien nach Amerika gezogen. „Ich trage die Flagge, weil ich stolz darauf bin, wo meine Familie herkommt. Ich will nicht vergessen, dass ich deutscher Abstammung bin.“ Zwar sei sie noch nie in Deutschland gewesen, aber das erste Reiseziel nach ihrem Einsatz auf See stehe schon fest: „Ich will nächstes Jahr das Oktoberfest besuchen.“

Sean Bailey schaut von oben auf die startenden und landenden Flugzeuge runter. Der Kommandant der Kampfgruppe der Harry S. Truman befindet sich auf der sogenannten Insel, die sich mehrere Stockwerke über dem Flugdeck befindet. Im Ernstfall wäre er auch für die Verteidigung des Flugzeugträgers verantwortlich. „Die Schiffe, die uns eskortieren, würden feindliche Angriffe abwehren“, sagt Bailey.

Die Harry S. Truman begleiten die Zerstörer USS Stout und USS Jason Dunham sowie der Lenkwaffenkreuzer USS Gettysburg. Die Schiffe seien mit einer „Vielzahl von fähigen Waffensystemen“ ausgerüstet, auch um sich gegen Angriffe aus großer Entfernung zu verteidigen, sagt Bailey. Die USS Gettysburg fungiere als primäre Luftverteidigungseinheit. Aber auch die Harry S. Truman selbst ist mit unterschiedlichen Waffensystemen, elektronischer Kriegsführung und Radaren ausgerüstet. „Unsere Verpflichtung ist es, ein freies und offenes maritimes Umfeld auf der ganzen Welt sicherzustellen“, sagt Bailey. Gerade Europa würde durch solche Operationen geschützt.

„Gelebte Abschreckung“ gegenüber Russland

Die NATO hebt hervor, dass es sich bei „Neptune Strike“ nicht um eine Übung, sondern eine „Aktivität“ handele. Der genaue Unterschied aber bleibt schwammig. Ein deutscher Presseoffizier spricht von „gelebter Abschreckung“. Die Allianz übe nicht; sie demonstriere, was sie schon kann. Von offizieller Seite heißt es, wie gewöhnlich, dass die „Aktivität“ defensiv und nicht gegen einen bestimmten Staat ausgerichtet sei. Hinter vorgehaltener Hand sagen NATO-Offizielle, dass man auch Russland wissen lassen wolle, dass das Bündnis mithilfe seiner Flugzeugträger praktisch jeden Punkt auf der Welt erreichen könne.

Auf dem Flugdeck der Harry S. Truman herrscht organisiertes Gewusel und ohrenbetäubender Lärm. Die Besatzungsmitglieder kommunizieren vor allem über Handsignale. Sie betanken und kontrollieren die Flugzeuge, weisen ein, geben Startfreigaben – sorgen für Sicherheit auf „einem der gefährlichsten Arbeitsplätze der Welt“, wie es heißt.

Ein Kampfflugzeug vor dem KatapultstartGregor Grosse

Die Kampfflugzeuge starten nur wenige Meter von der Besatzung entfernt. Mit einem Dampfkatapult werden sie vom Flugdeck geschossen; beschleunigen innerhalb von zwei Sekunden auf rund 250 Kilometer die Stunde und heben von der kurzen Startbahn über die Nordsee ab. Wasserdampfwolken steigen auf und hüllen das Flugdeck für kurze Zeit in dichten Nebel. Das nächste Flugzeug steht schon startbereit.

Die Alliierten spielen verschiedene Einsatzszenarien durch: die Verteidigung von Schiffen und maritimen Kontrollpunkten, die Abwehr von Wasserminen und Drohnen, Landungsoperationen und Angriffe gegen Bodenziele. Die Piloten sind bis zu sechs Stunden in der Luft, bevor sie zur komplizierten Landung auf dem Flugzeugträger ansetzen.

Lose Gegenstände können sich in tödliche Geschosse verwandeln

Die Crew auf dem Deck achtet penibel darauf, dass sich auf der Landebahn keine losen Gegenstände befinden. Diese könnten sich in tödliche Geschosse verwandeln, wenn ein Flugzeug sie trifft. Als ein Techniker ein Werkzeug verliert, rennen mehrere Crew-Mitglieder los, um es zu finden. Der Flugbetrieb wird kurzzeitig eingestellt. Das sei „eher Routine“, sagt ein Sprecher. In Reihen geht die Mannschaft das Flugdeck ab. Das Werkzeug ist schnell gefunden. Aus den Lautsprechern tönt es: „Bitte verlasst die Landebahn! Das nächste Flugzeug ist im Anflug.“

Die Landung auf einem Flugzeugträger gilt schon bei gutem Wetter als äußerst anspruchsvoll. An diesem Tag regnet und windet es, die Sicht ist schlecht. Die Piloten müssen mit einem am Flugzeug angebrachten Fanghaken eines der vier quer gespannten Stahlseile erwischen, um abrupt abzubremsen: von 200 Kilometer die Stunde auf null in wenigen Sekunden. Beim Aufsetzen gibt der Pilot Vollgas, um wieder durchstarten zu können, falls er die Stahlseile verfehlt.

„Mein Herz rast jedes Mal“

Gerade für junge Piloten ist das eine nervenaufreibende Mission: „Mein Herz rast jedes Mal – egal, wie oft ich das schon gemacht habe“, sagt Nick Williams. Der 27 Jahre alte Kampf­pilot der US-Navy ist noch in der Ausbildung. Vor allem Landungen auf der stürmischen Nordsee oder bei Nacht seien ex­trem schwierig, sagt Williams. „Beim eigentlichen Vorgang bin ich ruhig und fokussiert. Aber sobald ich einen Moment zum Nachdenken habe, spüre ich die Nervosität.“

Kampfpilot in der Ausbildung: Der 27 Jahre alte Nick WilliamsSchwedische Streitkräfte/Hampus Andersson

Auch für erfahrene Piloten ist die Landung nicht ohne. „Es kann beängstigend sein“, sagt Bernie Lutz, Kommandeur des Flugzeuggeschwaders VFA-136. Der 41 Jahre alte Soldat verfügt über reichlich Kampferfahrung. Von 2016 an ist er 19 Einsätze gegen den „Islamischen Staat“ von der Harry S. Truman geflogen. „Solche Operationen sind nicht so dynamisch, wie sich das viele vorstellen“, sagt er. Man sitze viel rum und warte. Die Piloten müssten sicherstellen, dass „wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, um möglicherweise ein kleines Stückchen Action zu erleben“.

Irgendwann gewöhne man sich auch an die Landung auf Flugzeugträgern. „Ab dem hundertsten Mal wird es langsam normaler.“ Unter anderem der richtige Anflugwinkel sei entscheidend. Man habe nur ein kleines Fenster, um den Fanghaken in die „Touchdown-Zone“ zu steuern. Dennoch gelinge das in gut 90 Prozent der Fälle. „Desto routinierter du bist, desto seltener musst du noch mal durchstarten.“ Ein NATO-Sprecher sagt, dass es in der Geschichte der Harry S. Truman immer wieder Unfälle bei Landungen gegeben habe. Aktuell komme das aufgrund der guten Ausbildung aber nur „extrem selten“ vor.

Die Geschichte der Harry S. Truman ist halb erzählt, sie hat die Hälfte ihres Lebens hinter sich. Die US-Navy gibt ihren Flugzeugträgern eine Einsatzzeit von 50 Jahren. Nach 25 Jahren werden sie aufwendig überholt. Das ist nun auch bald bei der Harry S. Truman der Fall. Die Fahrt in der Nordsee ist der vorerst letzte Einsatz, bevor der Flugzeugträger für vier bis fünf Jahre in einer Werft in Virginia verschwindet. Danach bleibt ihr noch ein Vierteljahrhundert.

Source: faz.net