„Die neue Regierung muss die Entwaldung auf null setzen“ – Seite 1
Lula da Silva hat die Präsidentschaftswahlen in Brasilien gewonnen. Der Wissenschaftler Carlos Nobre soll ihn künftig in Klimafragen beraten. Über die Regierung des nun abgewählten Präsidenten Jaír Bolsonaro sagt Nobre, kein anderer Präsident habe jemals seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 so stark die Zerstörung des Amazonaswaldes vorangetrieben. Nachfolger Lula habe bereits versprochen, die Rettung des Amazonaswaldes zu einer Priorität zu machen.
ZEIT ONLINE: Herr Nobre, der brasilianische Präsident Jaír Bolsonaro ist gerade abgewählt worden. Er hinterlässt aber ein böses Erbe, weil er die Amazonasabholzung über seine vier Amtsjahre hinweg rasant vorangetrieben hat. Wie schlimm war Bolsonaro für den Regenwald?
Carlos Afonso Nobre: Leider sehr schlimm, die Entwaldung hat in dieser Zeit erheblich zugenommen: von ungefähr 8.000 Quadratkilometern gerodeter Fläche im Jahr 2017/2018 auf etwa 13.000 Quadratkilometer 2020/2021. Und auch dort, wo der Wald noch steht, wurde er ausgedünnt und stark beschädigt, zum Beispiel durch die Großbrände, die auch dieses Jahr wieder Rekorde gebrochen haben. Sprich, da müssen Sie allein für das laufende Jahr nochmal 20.000 Quadratkilometer zerstörter Waldfläche hinzu rechnen.
ZEIT ONLINE: Lag das denn wirklich am Präsidenten Bolsonaro?
Nobre: Ja. Es ging schon kurz vor dessen Amtsantritt los, sobald klar wurde, dass er die Wahl gewinnen würde. Bolsonaro sendete schon länger politische Signale aus, die völlig klar gegen den Erhalt des Regenwalds gingen. Die Umweltverbrecher in Brasilien – die illegalen Holzfäller, Goldgräber, Wilderer, Tierschmuggler und Landspekulanten – haben seine Ankunft dann als Freifahrtschein gedeutet. Im Amt hat Bolsonaro dann die Aufsichtsbehörden demontiert, die die Zerstörung hätten aufhalten können. Kein anderer Präsident seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1985 hat jemals so stark die Zerstörung des Amazonaswaldes und auch der brasilianischen Biome vorangetrieben, und keiner hat so heftig den indigenen Völkern geschadet.
ZEIT ONLINE: Der frisch gewählte neue Präsident Lula da Silva hat bereits versprochen, dass er die Rettung des Amazonaswalds zu einer Priorität machen will. Haben Sie denn Hoffnungen, dass man schnell etwas davon merken wird?
Nobre: Ganz konkret: Im Augenblick ist im brasilianischen Kongress noch ein besonders schlimmes Gesetz in der Mache, das den Bergbau in den Schutzgebieten für indigene Völker erlauben würde. Dieses Gesetz wird nach diesem Wahlergebnis sicher nicht vorankommen.
ZEIT ONLINE: Das wäre ein Einzelerfolg, aber insgesamt muss man sich jetzt doch die Frage stellen: Ist der Amazonaswald noch zu retten? Sie haben selber häufig davor gewarnt, dass dieses Gebiet recht bald einen sogenannten „Tipping Point“ erreicht: dass so viel abgeholzt worden ist, dass der restliche Wald austrocknet und sich in eine Steppe verwandelt.
Nobre: Ja, es ist aber noch offen, ab welchem Punkt genau das passiert. Im Süden der Amazonasregion würde ich sagen: Ja, da ist der Wald schon jetzt sehr nah an solchen Tipping Points. In zehn bis zwanzig Jahren ist dann der ganze südliche Amazonaswald weg. Dieser Effekt wird sich aber rasch auf die ganze riesige Region ausweiten, die vom atlantischen Ozean bis nach Bolivien reicht. Dann sprechen wir bald von zwei Millionen Quadratkilometern, die so zerstört sind, dass sie in 30 bis 50 Jahren keine Chance mehr haben, jemals wieder ein funktionsfähiger Regenwald zu werden.
ZEIT ONLINE: Das wäre der größte Teil des bisher noch bestehenden Amazonaswalds.
Nobre: Jedenfalls zeigt das, wie schnell die neue Regierung es jetzt schaffen muss, die Entwaldung auf Null zurückzufahren, das jährliche Brandstiften unter Kontrolle zu bringen und einen großen Teil des Waldes wieder zu regenerieren.
ZEIT ONLINE: Die Lula-Regierung soll den Wald regenerieren?
Nobre: Ich habe meine Ideen Lula da Silva schon vorgetragen, und er war ganz angetan. Ja, wir müssen den Amazonas wieder regenerieren. Vielerorts hat der Regenwald ja sogar noch die Fähigkeit, sich zu regenerieren und wieder zu wachsen, wenn man ihn nur in Ruhe lässt. Wenn man abgeholzte Weideflächen brach liegen lässt, kann dort in einigen Regionen in 30 oder 40 Jahren wieder Wald stehen. Dort ist es sogar möglich, positive Kreisläufe in Gang zu bringen: Mehr Regenwald bindet mehr Wasser, das in die Luft aufsteigt, aus dem sich Wolken bilden. Die Wolken spenden dann Regen, was am Boden das weitere Wachstum fördert und die Feuer im Schach hält. So hat sich der Regenwald ja über Zig Millionen Jahre überhaupt entwickelt!
ZEIT ONLINE: Reicht es denn aus, den Wald ab einfach in Ruhe zu lassen, um solche positiven Kreisläufe in Gang zu bringen?
Nobre: Nein, vor allem im Süden des Gebiets müssten wirklich große Wiederherstellungsprojekte aufgelegt werden.
ZEIT ONLINE: Da sollen also Bäume gepflanzt werden?
Nobre: Die natürliche Regeneration geschieht ja sehr langsam. In den Gegenden, wo schon sehr viel abgeholzt worden ist, sollte deshalb aufgeforstet werden.
ZEIT ONLINE: Das klingt nach einem gigantisch großen Projekt.
Nobre: Ich glaube, dass Brasilien dafür auch internationale Finanzmittel suchen sollte, auch in Deutschland und anderswo in Europa. Ein wenig würde das dem Projekt der Great Green Wall ähneln, mit der in Afrika wieder aufgeforstet werden soll.
Ein Projekt für das Weltklima
ZEIT ONLINE: Es soll nach Ihren Vorstellungen also kein rein brasilianisches, sondern ein internationales Projekt werden?
Nobre: Es ist ja auch ein Projekt für das Weltklima. So eine Rekonstruktion von tropischem Regenwald bindet ganz besonders viel Kohlenstoff. Der Amazonaswald zieht jedes Jahr mehr als eine Million Tonnen CO2 aus der Luft. Ich will das als eine wichtige Idee für die neue brasilianische Regierung und auch für die neue Regierung in Kolumbien lancieren, und dann steigen womöglich auch andere Länder der Region mit ein.
ZEIT ONLINE: Bevor man an eine Wiederaufforstung denkt, muss erstmal das Abholzen gestoppt werden. Allein das erscheint in Brasilien doch schon sehr schwierig.
Nobre: Was dort heutzutage passiert, sind Umweltverbrechen. Mehr als 95 Prozent der Holzfällerei im brasilianischen Amazonasgebiet ist illegal. Es ist ein Verbrechen. Das findet auch auf Flächen statt, die dem Staat gehören, in Schutzgebieten für die Natur und für indigene Völker. Aber es gibt Methoden, dort effektive Aufsicht und Polizeiarbeit zu leisten, auch wenn das eine große Herausforderung sein wird.
ZEIT ONLINE: Zumal große wirtschaftliche Interessen dem entgegenstehen.
Nobre: Es könnten aber auch große wirtschaftliche Interessen dahinter gestellt werden, den Amazonaswald zu erhalten. Ich denke, dass wir über eine neue Bioökonomie nachdenken müssen. Schon heute werden aus dem Regenwald, da wo er lebendig ist, mehr als 100 Produkte geschaffen. Eines der bekanntesten und besonders wertvollen Produkte etwa sind die Früchte der Açaí-Palme. Die Leute, die im Regenwald leben und zum Beispiel Kooperativen für die Ernte und den Vertrieb solcher Waldprodukte betreiben, haben schon heute ein viel besseres Leben als die oft bettelarmen Arbeiter auf den Rinderfarmen.
ZEIT ONLINE: Das brasilianische Agrobusiness ist doch eine Milliardenindustrie, die sicher nicht gerade ins Amazonasgebiet expandieren würde, wenn es sich nicht lohnte?
Nobre: Nein, diese Rechnung ist anders. Erstens lohnen sich diese frisch entwaldeten Flächen häufig überhaupt nicht. Die werden nicht erschlossen, weil sie für die Produktion wirklich gebraucht werden, sondern eher aus einem kulturellen Reflex heraus: dass man viel Land haben will. Und zweitens leben viele im brasilianischen Agrarbusiness in den Tag hinein: Wir betreiben jetzt für einige Zeit Landwirtschaft an diesem Ort, und dann hinterlassen wir eine Wüste und ziehen weiter an den nächsten Ort. Dahinter steckt überhaupt keine Vision! Nur wenige haben dort schon im Blick, dass die Klimaeffekte durch die Zerstörung des Regenwaldes ihre Produktion im ganzen Land empfindlich treffen dürfte. Es gibt auch ein paar Weitsichtige, die eine regenerative Art der Landwirtschaft anstreben, aber die sind eine kleine Minderheit.
ZEIT ONLINE: Wie sieht Ihr eigenes Gegenprogramm aus?
Nobre: Ich stelle es mir so vor, dass wir neue Produkte und neue Systeme für das nachhaltige Bewirtschaften des Waldes entwickeln, bei dem die Bäume erhalten bleiben, die gesamte Biovielfalt und auch die kulturelle Vielfalt der indigenen Völker…
ZEIT ONLINE: Das ist das, was Lula da Silva im Wahlkampf die „Ökonomie des stehenden Waldes“ genannt hat.
Nobre: Wobei diese zum Großteil tatsächlich erst noch erfunden werden muss. Ich werde demnächst einen Vorschlag für die Gründung einer Reihe von Instituten machen, die wir „Technologieinstitute des Amazonas“ nennen. Das soll vom Niveau auf der Höhe großer westliche Technologieuniversitäten wie dem Massachusetts Institute of Technology sein und am besten von mehreren Amazonas-Anrainerstaaten getragen werden. Auch hier haben wir angefangen, uns international nach Forschungspartnern umzusehen. Wir wollen auch Wissenschaftler aus aller Welt für diese Aufgabe gewinnen.
ZEIT ONLINE: Was sollen diese Institute genau machen?
Nobre: Die reichhaltige Natur am Amazonas hat noch so viele Produkte zu bieten, die ein großes wirtschaftliches Potential als Nahrungsmittel, Werkstoffe oder Heilmittel haben – die aber noch niemand richtig entwickelt und auf den Markt gebracht hat. Das sollte dringend geändert werden, und eine Basis für eine neue Bioökonomie am Amazonas geschaffen werden. Damit könnte doch viel mehr Geld verdient werden als durch Abholzen oder durch das Abstellen von ein paar Rindern auf brandgerodeten Weideflächen.