Einmal lesen, zweimal lesen, dreimal lesen – wie kann es sein, dass ein Buch mit dem Schreckensthema Demenz eine solche Bannkraft entfaltet, dass man es immer wieder zur Hand nimmt, sich festliest und merkwürdig getröstet fühlt?
Denn eigentlich erzählt dieses Buch eine Geschichte, die fast alltäglich ist. Ein alter Mann, Notar und Rechtsanwalt, Vater zweier Söhne, verwitwet, versinkt in die Demenz. Er ist einer, der sein Leben gemeistert hat, er wird uns als ruhiger, verstandesgeleiteter Typ geschildert – dieser alte Herr wird in den ein, zwei, drei Jahren, von denen hier erzählt wird, vom Schicksal demontiert. Er wird Dinge verlegen, Begriffe vergessen, später in seinem schönen Haus herumirren, er wird am Ende sich selbst fast verloren haben.
Die Diagnose Demenz wird in Deutschland etwa neunhundertmal täglich ausgesprochen. Hunderttausende neue Fälle jedes Jahr. Wir sind darauf gefasst, dass auf dem Weg durch das Alter zum Tod vieles mürbe wird. Die Knie, die Lendenwirbel. Muskeln schwinden, Zellen werden zu Tumoren – irgendwie muss der Mensch zu Tode kommen. Dass der Verlust des Geistes so gefürchtet ist, verrät, dass wir genau verstehen: Es ist nicht der Körper, der uns ausmacht, sondern – nennen wir es Seele.
Wie also fühlt sich dieser alte Mann, während er durch den sich leerenden Raum seines Lebens driftet? Der Autor Volker Kitz, der hier über seinen Vater schreibt, in einem Stil, der zugleich präzis und fein ist, findet dafür ein schönes, den Atem nehmendes Bild. Er schaut in den dunklen Himmel, von dem die Sterne leuchten, und erzählt von der Entdeckung des Physikers Edwin Hubble, dass nach dem Urknall vor circa 13,8 Milliarden Jahren sich die Sterne in rasendem Tempo von uns entfernen. „Weil das Licht Reisezeit braucht, schauen wir in unsere Vergangenheit, wenn wir in den Himmel schauen. Jeder Morgen gibt ein Stück unseres Gestern preis …“, schreibt Kitz. „Im Leben meines Vaters gibt es alle paar Minuten einen Urknall.“ Erinnerungen, Fähigkeiten stieben von ihm weg. Die Rasanz des Geschehens, andererseits ein Feststecken in der Krankheit – es sind diese konträren Tempi, die Kitz in dem Buch zu verweben hat. Und es gelingt.
Kitz ist, wie sein Vater, Jurist. Das hat für das Buch Vorteile. Die beiden sind von einer Art. Penibel in Betrachtung und Abwägung der Dinge. Da ist eine Unbestechlichkeit in der Wahrnehmung. Knappe Worte. Humor, oft trocken. Nie auf Kosten des Kranken! Die beiden verstehen sich. Sie haben dieselbe Zurückhaltung, aber auch Wärme gegenüber denen, die sie lieben. Kitz erzählt aus der Zeit, in der man ihn Bambi nannte, als der Vater ihm das Rennen beibrachte: „Wenn du die Arme bewegst, kommst du besser voran“, hatte er gesagt. Als der Anwaltvater den Eindruck gewinnt, der Jurasohn stecke im Stress des Staatsexamens fest, teilt er ihm mit, er werde anreisen und helfen. Paragrafensupport. Und jetzt andersrum, Gesundheitsnotstand, und man versteht: Es kann ein Andersrum nur geben, weil es das Davor gab, die Liebe. Das ist der Kern dieser Geschichte.
Volker Kitz reist regelmäßig beim Vater an, und als es notwendig ist, nimmt er ihn mit, nach Berlin. Der alte Mann wohnt in seiner Nähe, in einem Heim. Beider Leben synchronisieren sich jetzt. Der Sohn, an seinem Schreibtisch, hat im Kopf den Vater in seinem Zimmer. Was tut er gerade? Was braucht er? Jeder Tag bringt Überraschungen, oft schlechte. Der Sohn ringt um Fassung und mit der Heimleitung, und sein Vater sagt einen seiner wunderbaren bescheidenen Sätze: „Wenn du da bist, habe ich weniger Probleme.“
Es gibt für diesen Text große Vorläufer. Befragt, wie man weiterlebt, wenn der größte Schrecken eintritt, erst der Mann, dann die Tochter stirbt, sagte die Autorin Joan Didion, sie tue, was sie könne – recherchieren, schreiben. Ihr 2005 erschienenes Buch Das Jahr des magischen Denkens hat ein Genre geschaffen, den persönlichen Essay, der an die Grenzen des Schmerzes geht – aber Halt gibt in einem Gerüst, das sorgfältig gezimmert ist aus Sachwissen und Überlegungen. So macht es auch Kitz.
Er recherchiert. Studien der Gehirnforschung. Literatur. Psychologische Erörterungen. Husserl, Freud, Proust natürlich, Gogol. Zwölf Seiten Literaturangaben, aber daran ist nichts schwer, weil diese Funde wie beiläufig in den Text fließen. Dessen Fokus wechselt nun immer öfter zum Sohn – und zu uns. Was wollen wir bewahren vom Leben? Wieso können wir Fotos nicht loslassen? Ist die Angst vor dem Verschwinden der Bilder unseres Lebens eine Angst vor dem Alleinsein, fragt der Autor. Der selber keine Kinder hat, die sich um ihn so kümmern könnten, wie er sich kümmert und wie es natürlich nur wenige Kinder tun können.
Man sieht den Vater, wie er auf dem Bett liegt, „die Unruhe im Innern schlägt gegen die Hülle wie Magma“. Man hört Vater und Sohn, wie sie zusammen Tulpen aus Amsterdam schmettern. Möglich, dass es die Schönheit des Textes ist, die uns, und vielleicht dem Autor, die Wucht des Geschehens erträglich macht. Die Vorstellung, dass es vielleicht irgendwann unmöglich wird, zu essen, die Hand zum Munde zu führen, weil man den Sinn der Geste nicht mehr sieht.
„Wenn ich diese Dinge erst einmal gelernt habe“, sagte der Vater, „wird es besser.“
Darin liegt so viel Hoffnung, und dass sie trügt – nun, er weiß es nicht.
Volker Kitz: Alte Eltern. Über das Kümmern und die Zeit, die uns bleibt; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024; 240 S., 23,– €, als E-Book 19,99 €