Der polnische Utopist Stanislaw Lem wusste schon früh, was künstliche Intelligenz, Gentechnik und Robotik mit den Menschen macht. Er selbst hatte durch ein allzu menschliches Laster eine erhellende Nahtoderfahrung – wegen eines unerkannten Leidens.
Halva ist eine Süßspeise aus Sesamsamen, Honig und Glukosesirup, abgeschmeckt mit reichlich Zucker. Als die Welt noch größer war, galt die gepresste Paste als Spezialität des Südens und des Ostens. Krakau lag im 20. Jahrhundert, von Mitteleuropa aus betrachtet, schon hinter der Halvagrenze. Der polnische Utopist Stanislaw Lem schrieb seine Klassiker in Krakau. „Die Sterntagebücher“ und „Solaris“, das „Robotermärchen“ und „Der futurologische Kongress“. Zu seinen Obsessionen gehörte, neben der Autoraserei, dem Rauchen und dem Humanismus, Halva. Morgens, mittags, abends, nachts.
2003, drei Jahre bevor Lem schließlich an einer Herzerkrankung starb, erlitt er einen Zuckerschock. Er kippte, wie er kurz vor seinem Tod mit 84 Jahren noch vergnügt in seinem letzten ausführlichen Interview erzählte, einfach um. Zur ordentlichen Actionszene wurde sein Zusammenbruch, indem er mit dem Kopf aufschlug, sich eine Platzwunde zuzog, anderthalb Liter Blut verlor, ins Koma fiel und beinahe das Zeitliche gesegnet hätte, ohne dass er die Geschichte jemals hätte schildern können. Als er wieder zu sich kam, erfuhr er, dass sein Blutzuckerwert astronomisch hoch gewesen war, er unter Altersdiabetes litt und Süßes besser meiden sollte.
Dass die Diagnose ihn, wie er erklärte, überrascht habe, war wiederum für alle anderen eine Überraschung. Erstens: Halva. Zweitens: Marzipan in Schokolade. Drittens: Lem entstammte einer Ärztedynastie aus Lemberg, wo er mit dem Medizinstudium begann, das er, als seine Heimatstadt sich am Ende des Krieges in der Sowjetrepublik der Ukraine wiederfand, in Krakau fortsetzte und abschloss. Bei der Arztzulassungsprüfung fiel er durch. Lem weigerte sich, nach der Lehre der Lyssenkoisten, einer stalinistischen Biologie, zu praktizieren. Nach Trofim Lyssenko waren Gene eine bürgerlich-faschistische Erfindung: Organismen wurden durch die Lebensumstände geprägt. Lem wandte sich der Science Fiction zu, die er allerdings nie so nannte und auch nicht so nennen lassen wollte.
Wie fiktiv seine Geschichte war, von seiner Diabetes bis zu seinem Nahtod nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben, werden auch die besten Quellenkundler nicht entschlüsseln. Krankheiten behandelte er auch in seinem Werk, von Epidemien und Allergien („Der Schnupfen“) bis zum psychiatrischen Befund („Das Hospital der Verklärung“). Andererseits befasste Lem sich in seinen Romanen zwar vor allem mit einer universellen menschlichen Moral, aber indem er seine Helden mit dem Übermenschlichen und ihrer eigenen Hybris konfrontierte. Neuronale Netzwerke und künstliche Intelligenzen, Parallelwelten, Reisen durch Raum und Zeit, Robotik – und Genetik.
Selbstverständlich war ihm klar, dass weniger die Gene schuld an seiner Diabetes waren, sondern seine eigenen menschlichen Schwächen und die Süßigkeiten. Nachdem er gestorben war, erzählte sein Sohn Tomasz Lem, wie die Familie nach einer angemessenen Trauerzeit die Schreibstube betrat und hinter den Regalen mit den Büchern die versteckten, bis zur Zimmerdecke angewachsene Stapel aus Papier, Stanniol und Zellophan vorfand, aus denen Lem seine Bonbons, sein Marzipan, sein Halva ausgewickelt hatte.
In dem letzten großen Interview erinnerte Stanislaw Lem sich sogar an das Koma, das sein Kollaps ihm beschert hatte: „Es war ein sehr angenehmer Zustand. Ein Zustand der vollkommenen Leere. Seit diesem Ereignis weiß ich jedenfalls, dass uns nach dem Tod nichts erwartet. Ein absolutes Garnichts. Für mich als Atheisten eine durchaus beruhigende Nachricht.“
Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.
Source: welt.de