Alleinsein | Weihnachten: Einsamkeit unterm Christbaum

Wir leben immer singulärer. Nur zu Weihnachten, wenn alle große Pläne haben, wird das Alleinsein schnell zum Stigma. Nicht für unseren Autor: Eine Anleitung, wie sich Weihnachten alleine wirklich genießen lässt

Es gibt diesen Tag im letzten Drittel eines jeden Jahres, an dem die unweigerlichen Fragen der geplanten Vorhaben beginnen. Was macht man an Weihnachten, was isst man an Weihnachten und noch viel wichtiger wo und vor allem, mit wem fährt man wohin? Es ist wie das Spiel „Reise nach Jerusalem“. Die Stühle werden immer weniger und für die, die keinen ergattern, wird es ein Spießrutenlauf des gesellschaftlichen Normzwangs. Denn zu antworten „nichts“ oder „alleine“ ruft in den Menschen den fulminanten Drang der Besorgtheit aus, die psychoanalytisch meist nicht mehr ist als die innere Freude, diese Antwort selber nicht geben zu müssen.

Die Weihnachtsfeiertage alleine verbringen zu müssen, ist für die meisten Menschen eine schiere Unvorstellbarkeit. Da wird die nervige Verwandtschaft plötzlich zu einem gerngesehenen Rettungsfloß der Sicherung in der Gemeinschaft. Keiner möchte das Etikett des Alleingelassenen angeheftet bekommen. Diese Sorge, zu den unfreiwilligen Festtags-Eremiten zu gehören, lässt bei den Menschen einiges in der Bewertung von anderen Menschen und Gruppen relativieren. Alleine zu sein und alleine zu bleiben, gilt in unserer Gesellschaft als die finale Bankrotterklärung. Dies gilt es tunlichst zu umschiffen. Und doch gibt es sie, die Menschen, die Weihnachten alleine sind. Aber sind sie auch automatisch einsam? Ich selbst bin durch ein paar Wendungen in meinem persönlichen Leben mittlerweile ein Mensch, der Weihnachten alleine verbringt. Aber ich verbringe es nicht nur, ich feiere es auch. Das wiederum wirkt auf die meisten Menschen, die davon erfahren, als Notlüge par excellence.

Weihnachten mit der toxischen Familie? Nein, danke

Im Alltag verbringen immer mehr Menschen ihr Leben alleine oder größtenteils singularisiert. Weihnachten gilt als das letzte Bollwerk der familiären Gemeinschaft. Doch was tun, wenn die Familie tot oder toxisch oder beides ist? Seine eigenen Werte zu verkaufen, ist ein Pakt mit dem verzögerten Teufel. Denn auf Kurzstrecke wirkt es wie eine Rettung vor dem Mysterium des vereinzelt verbrachten Weihnachtsfest. Auf der Mittel- und Langstrecke verkauft man seine Seele an Menschen, die mitnichten Wert auf dieselbige legen. Die Aussicht, Weihnachten alleine zu verbringen, kann Menschen in schiere Panik werfen. Es breitet sich ein Gefühl einer woher auch immer rührenden Vernichtungsangst aus, je näher die Tage der eigentlichen Besinnlichkeit kommen. Doch – seien Sie beruhigt – es passiert Ihnen nichts!

Bei meinem ersten Weihnachtsfest alleine, hatte ich auch Sorge, wie das denn nun werden würde. Mittlerweile habe ich damit ausreichend Erfahrung gesammelt, dass die Wahrung der eigenen Werte weitaus höher wiegt, als sich an eine wie auch immer toxische Gemeinschaft zu verkaufen, nur um bloß nicht alleine zu sein. Dass man Weihnachten alleine und nicht einsam, glücklich und nicht trauernd verbringen kann, ist indes für viele Menschen nicht vorstellbar.

Eine Freundin von mir war im höchsten Maße pikiert, als ich ihr Angebot, mit ihr und ihren Freunden zu „feiern“ dankend ablehnte. Denn wenn Weihnachten feiern, so meine These, dann mit Menschen, mit denen ich keinen Smalltalk abhalten muss. Die pikierte Freundin war deshalb so konsterniert, weil sie dachte, sie würde mir generös einen Rettungsring zuwerfen, den ich, wie Leonardo di Caprio im Eiswasser der Einsamkeit treibend, doch bitteschön anzunehmen hätte. Auch ich war mir damals nicht schlussendlich sicher und wurde es mir dann doch. Denn, so meine Regel, es gab kein bedingungsloses Ja, mich an eine mir unbekannte Feiergemeinschaft anzuschließen. Und mein Inneres behielt recht, dass die Absage richtig gewesen war.

Wie sich das Alleinsein genießen lässt

Gewöhnungsbedürftig ist das Alleinsein für Untrainierte dennoch. Lassen Sie mich Ihnen ein paar Tipps geben, vielleicht helfen Sie Ihnen. Es ist wichtig, dass Sie diese Situation nicht als ein Scheitern Ihrer selbst ansehen. Das sagt sich, wie so vieles, leichter als es zuerst ist. Ich kann Ihnen raten, sich es nach Ihren (und nur Ihren!) Maßstäben schön zu machen. Seien Sie es sich wert! Wenn ich Menschen höre, die sagen, Essen würde Ihnen alleine weniger schmecken als zu zweit, haben Sie das Paradebeispiel eines Problems. Sie müssen sich selbst genug sein. Um Essen genießen zu können, braucht es keine weiteren Personen. Um Ihr Leben genießen zu können, auch nicht.

Kaufen Sie sich vielleicht einen Tannenbaum, so wie ich, schmücken Sie ihn so, wie Sie es mögen. Kaufen Sie sich Essen ein, wie genau Sie es wollen. Schauen Sie das im Fernsehen, was Sie wollen. Lesen den Trashroman, den Sie in der S-Bahn sich nicht trauen auszupacken. Schlafen Sie bis in die Puppen oder gehen im Morgengrauen spazieren. Bauen Sie, so wie ich, sich eine Gartenbahn auf dem Balkon auf. Stellen Sie sich die Frage, was genau Ihnen Freude bereitet. Egal, was andere dazu sagen könnten oder würden. Denn Sie haben Glück: Sie sind ja alleine. Und Sie müssen auch niemanden etwas davon erzählen – außer wenn Sie es wollen. Suchen Sie sich die Menschen, mit denen Sie Ihre Situation teilen, genau aus. Einige Menschen reagieren, wie meine gute Freundin, pikiert und wollen pseudo-altruistisch helfen.

Kümmern Sie sich um sich, achten Sie auf sich. Seien Sie furchtlos. Schreiben Sie Ihre Gedanken, wenn Sie mögen, auf. Führen Sie, wenn Sie mögen, ein Gefühlstagebuch. Die digitale Gesellschaft hat den unschlagbaren Vorteil: Sie sind immer in der Lage digital Kontakt aufzunehmen, wenn Sie denn wollen. Es gibt keinen Sendeschluss mehr, Sie können mit der Welt in Verbindung bleiben. Und es gibt Angebote wie die Telefonseelsorge, wenn Sie das Gefühl haben, es doch nicht auszuhalten. Die wichtigste Entscheidung ist nur eine einzige: Entscheiden Sie sich für sich.

Ein Frohes Fest Ihrer selbst – Sie schaffen das! – wünscht Ihnen

Jan C. Behmann

Hinweis

Sind Sie einsam, depressiv oder haben Suizidgedanken?

Bitte kontaktieren Sie umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Sie erreichen diese unter den kostenlosen Telefonnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222. Die dortigen Berater zeigen Ihnen Wege aus schwierigen Situationen auf und werden Ihnen helfen.

In lebensbedrohlichen Fällen oder im Zweifel, rufen Sie den Notruf unter 112 oder die Polizei unter 110. Dies gilt auch, wenn Sie vermuten, dass andere Menschen sich in akuter Gefahr befinden. Auch wenn Menschen im Internet im Zweifelsfalle Lebensbedrohliches ankündigen, nutzen Sie umgehend den Notruf der Polizei unter 110.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.

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