All Eyes on Gaza oder: Wie denkt Deutschland Palästina

Der Bann ist gebrochen: Bis zu 100.000 Menschen demonstrierten in Berlin gegen den Genozid in Gaza. Ein Kraftakt, bei dem es jedoch nicht bleiben darf


Wohin blicken wir morgen? All Eyes on Gaza Großdemonstration, 27. September 2025, Berlin

Foto: pictures alliance/Christoph Soeder



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Ja, es ist ein historischer Moment für Deutschland. An die 100.000 Menschen demonstrieren in Berlin für Gaza und gegen den Genozid, den die israelische Regierung an Palästinensern verübt. Eine Massendemonstration gegen die Kriegsverbrechen Israels in Deutschland, so lange undenkbar, und nun erzwungen von der Geschichte. Der Weg zu diesem Protest ist nass von den Tränen jener Generation, deren Vermächtnis es ist, Israel gegen seine Feinde zu verteidigen, was auch immer kommen möge. Jetzt gilt es, Israel gegen seine eigenen Verbrechen zu verteidigen. Wohin führt dieser Weg?

Aber geht es überhaupt um Deutschland? Am 27. September waren alle Augen auf Berlin. „Der Nahost-Diskurs öffnet sich“, schreibt die taz am nächsten Tag. Der Spiegel titelt: „In Berlin wird klar, dass der Krieg in Gaza Deutschland geteilt hat.“ Ist das die Meldung, wirklich? Deutschland wurde durch den Krieg im Gaza geteilt?

All Eyes on Gaza, dafür haben Zehntausenden demonstriert, linke Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen, Linke aus aller Welt in Berlin: damit wir nach Gaza schauen, damit wir etwas tun gegen das Grauen. Denn in Wahrheit ist es kein historischer Moment für Deutschland. Es ist ein historischer Moment für Palästina.

Und während schon diskutiert wird über die Probleme der Linke-Vorsitzenden Ines Schwerdtner, zur Bühne zu gelangen, über deutsche Israelkritik und Gefahren möglicher Radikalisierung, verfolgt Israels Regierung jetzt gerade und nach dem 27. September noch immer weiter den Plan, Gaza von Palästinensern zu räumen und 600.000 von ihnen in ein Internierungslager bei Rafah zu sperren, das Westjordanland zu zersiedeln, die Besatzung auszudehnen und Palästina – ja, was?

Welche Umrisse hat Palästina?

Es gibt eine Debatte in Deutschland über die Umrisse Palästinas auf T-Shirts, und tatsächlich steht die Frage im Raum: Welche Umrisse hat Palästina dann heute, ein paar zertrümmerte Punkte auf der Karte? Und welche wird es morgen haben? Bedeutet „All Eyes on Gaza“ auch: All eyes on Palestine? Und wo, bitte, ist Palästina?

All Eyes on Gaza. Das bedeutet, jetzt nicht auf einen ehemaligen Bild-Journalisten reinzufallen, nicht in deutschen Befindlichkeiten zu baden, aber auch achtsam zu bleiben. Einst musste Deutschland lernen, Israel zu denken. Jetzt erst lernt Deutschland, auch Palästina zu denken. Auch. Und da Deutschland recht gut darin ist, mit der Axt durch die Welt zu brüllen und in hell und dunkel zu spalten, haben die Besorgten ja recht: Es muss acht gegeben werden, dass aus dem Kämpfen gegen den Tod in Palästina kein deutscher Kampf wird. Denn der Tod ist noch immer ein Meister aus Deutschland.

Die deutsche Linke ist aus ihrem Schweigen ausgebrochen, was für ein Kraftakt. Aber die Frage an uns alle lautet: Wie geht es weiter? Wie einfach es ist, über Kulturboykotte zu diskutieren, die Zusammenarbeit mit Filmemachern, mit Akademikerinnen aufzukündigen, das ist so einfach, aber trifft es Benjamin Netanjahus Regierung? Nur eine Erinnerung: Der Film „No other Land“ von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor wäre nie in deutschen Kinos gezeigt worden, hätte es im vergangenen Jahr einen Kulturboykott gegeben. Und er hat ganz sicher beigetragen zur Demonstration am Samstag.

Von Berlin über die EU nach Gaza

Boykottdiskussionen scheinen so einfach, EU-Diskussionen so schwer, dröge Abstimmungen und Mehrheitsverhältnisse, EU-Assoziierungsabkommen und andere Wortungetüme. Aber hier ist der Handlungsraum. Wenn wir unsere Augen auf Gaza richten, ist dort etwas zu tun. In der Wirtschaft. In der EU. Wie beeinflussen diejenigen, die die Berliner Straßen geflutet haben, was in der EU passiert? Wie geht es weiter nach dem 27. September?

Ja, es tut gut, sich zu vereinen, etwas zu tun gegen das Grauen, nach all den Bildern, die sich gesammelt haben in unseren Mägen, unter unserer Haut, es tut gut, das Schweigen zu durchbrechen, eine Fahne hochzuhalten, zu rufen und zu singen und nicht mehr zuzuschauen, sondern zu handeln. Und es ist so dringend. Aber dringend ist nicht, auf der richtigen Seite zu stehen. Dringend ist nicht, linke Diskurse in Deutschland zu klären. Dringend ist es, das Töten, Hungern und die ethnische Säuberung in Gaza zu beenden.

Damit die Hunderttausend vom 27. September handeln, sollten wir nicht sie anschauen – sondern dorthin, wohin sie zeigen. Wenn der Weise mit dem Finger deutet, schaut nur der Dummkopf auf den Finger. All Eyes on Gaza.

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