Sentia Black mit Tonic – der bessere Longdrink?
„Chinesische Medizin.“ „Dieser komische ungarische Likör.“ „Etwas, das mein Großvater trinken würde.“ Der Geschmackstest läuft nicht gut. Der Dry-January ist vorbei und man greift wieder zur Flasche – doch dieses Mal ist es kein Alkohol. Theoretisch ist es das Nächstbeste: Sentia Black, „eine einzigartige Mischung aus funktionellen Pflanzenstoffen, die für Konzentration und Geselligkeit entwickelt wurde“, wie es auf dem Klappentext heißt.
Zusammen mit ein paar Testpersonen probiere ich die „einzigartige Mischung“ zuerst pur. Weil das nicht schmeckt, mixen wir Sentia Black mit Tonic Water – das macht es deutlich schmackhafter. „Festlich und erwachsen“, sagt eine Testperson. Aber abgesehen vom Geschmack – wirkt es auch? Das gemeinsame Gespräch läuft flüssig, aber ob wir „konzentrierter und geselliger“ sind als sonst, bleibt fraglich. Immerhin wacht niemand mit einem Kater auf. Aber lohnt sich das bei einem Preis von rund 40 Euro pro Flasche?
Die Wirkstoffe in Sentia Black sollen die Freisetzung von γ-Aminobuttersäure (Gaba) stimulieren – einem Neurotransmitter, der das Gehirn verlangsamt. Gaba steht im Zusammenhang mit Schlaf, Entspannung und Angst, spielt aber auch eine Rolle bei Epilepsie, Parkinson, Blutdruck und vielem mehr. Daher ist Gaba in Gesundheits- und Wellnesskreisen zum Schlagwort geworden, oft begleitet von Verwirrung und Fehlinformationen.
Gaba – das körpereigene Beruhigungsmittel
Gaba ist eine natürliche Substanz, die unser Körper selbst produziert. Es kommt in vielen Lebensmitteln vor, besonders in Kreuzblütlern wie Brokkoli und Grünkohl, fermentierten Speisen wie Kimchi und Tempeh sowie in bestimmten Kräutern. Der Verkauf von reinem Gaba ist in der EU und im Vereinigten Königreich wegen Missbrauchsgefahr verboten, in den USA und Japan jedoch legal. Dort kann man unzählige Gaba-Ergänzungsmittel mit Dosierungen von 10 mg bis 750 mg kaufen, ganz zu schweigen von mit Gaba angereicherter Schokolade und Gummibärchen.
„Gaba ist der Aus-Schalter des Gehirns“, sagt der Neuropsychopharmakologie-Professor David Nutt vom Imperial College London, einer der Erfinder von „Sentia Black“. Laut Nutt besteht Gehirnaktivität aus Neuronen, die ein- und ausgeschaltet werden. „Das Einschalten geschieht durch Glutamat, das Ausschalten durch Gaba.“ So wird Gaba mit Beruhigung in Verbindung gebracht. Nutt erklärt weiter: „Wenn wir auf Fremde treffen, sind wir von Natur aus leicht ängstlich. Alkohol – und Sentia – verstärken Gaba, um diese Hemmungen abzubauen.“
Sentia, das 2021 auf den Markt gekommen ist, soll die erste Phase eines Alkohol-Rausches nachahmen – das entspannte, „gesellige“ Gefühl, das man nach ein oder zwei Drinks haben kann. Es soll jedoch nicht zu den nachfolgenden Phasen führen: Verlust des Urteilsvermögens, Schmerzreduzierung, Gedächtnisverlust, Abhängigkeit. Man wird nicht betrunkener, je mehr Sentia man trinkt; man bleibt einfach in diesem „Sweet Spot“ der Geselligkeit, heißt es.
„Wir wollen den Alkohol nicht nachahmen“, sagt Nutt, „denn wir wollen nicht, dass Menschen betrunken, süchtig oder verkatert werden“. Nutts Motivation stammt aus seiner Zeit als Psychiater: „Ich habe 20 Jahre lang Menschen mit Alkoholproblemen behandelt.“ Aktuelle Zahlen zeigen, dass alkoholbedingte Todesfälle steigen, während gleichzeitig immer mehr Menschen auf Alkohol verzichten. In Deutschland starben 2020 rund 14.200 Menschen an Krankheiten, die ausschließlich durch Alkoholkonsum bedingt waren. Der Bedarf an Alternativen scheint da zu sein.
Der Arzt, der Alkohol verteufelte und deshalb gefeuert wurde
David Nutt wurde in Großbritannien 2009 als Regierungsberater für Drogenpolitik entlassen, weil er behauptet hatte, dass einige illegale Drogen wie Ecstasy, LSD und Cannabis weniger schädlich seien als legale wie Alkohol und Tabak. Seitdem forscht er an Alkoholalternativen und gründete 2019 das Unternehmen GABA Labs mit, welches Sentia herstellt. „Es gibt kleine Moleküle, die die Wirkung von Alkohol nachahmen. Wir haben uns diese angeschaut und festgestellt, dass sie komplex, schwierig und teuer sind. Also haben wir angefangen, unsere eigenen Moleküle herzustellen.“ Es ist ein schwieriger und teurer Prozess, sagt er, aber „in den letzten 10 Jahren haben wir 50 Moleküle hergestellt, die auf das Gaba-System abzielen, wie wir es wollen.“
Das Forschungsteam um Nutt untersuchte auch Pflanzen und Heilmittel aus westlicher, chinesischer und ayurvedischer Tradition, die mit Ruhe und Entspannung in Verbindung gebracht werden – wie Baldrian und Schlafbeere. Sentia ist eine Mischung aus natürlichen Inhaltsstoffen, von denen einige der Gaba-Förderung dienen, andere dem Geschmack, darunter Brombeersaft, Aronia, Magnolie, Linde, Passionsblume, Lakritze, Schlafbeere und mehr – sowie das, was auf dem Etikett als „GABA Labs proprietäre Mischung“ bezeichnet wird, dass die synthetischen Moleküle enthält, die auf das Gaba-System abzielen, von denen Nutt sprach.
Nach mehreren Tests bleibt meine Erfahrung uneindeutig. Ich habe mich mit Sentia gut amüsiert, aber ob das Getränk den Unterschied gemacht hat, ist unklar. Ich frage Nutt: „Reagieren andere auch so?“ „Nur Journalisten“, scherzt er. Frauen würden es lieber als Männer mögen, behauptet er, aber er kann nur spekulieren, warum – vielleicht sind sie durch früheren Alkoholkonsum weniger unempfindlich oder es wirkt anders auf das weibliche Hormonsystem. Studien zeigen, dass einige Sentia-Zutaten Gaba-Rezeptoren beeinflussen. Experimente an Mäusen belegen, dass Sentia Gaba im Verdauungstrakt erhöht. EEG-Scans der Universität Exeter zeigen Veränderungen im Gehirn, die mit Entspannung assoziiert sind.
Alkoholalternativen als Geschäftsidee
Sentia ist nicht allein: Kin Euphorics aus den USA nutzt reines Gaba, Three Spirit setzt auf „Adaptogene“, und Impossibrew bietet ein „unglaublich entspannendes alkoholfreies Bier“. Impossibrew wurde von Mark Wong gegründet, einem 28-jährigen ehemaligen Hobbybrauer, der aus gesundheitlichen Gründen mit dem Trinken von Alkohol aufhören musste. In Zusammenarbeit mit Dr. Paul Chazot, einem Professor für Pharmakologie an der Durham University, entwickelte er eine Alternative.
Wong sagt, dass ihm ein Licht aufgegangen sei, als er seine Familie in Hongkong besuchte und sich mit traditionellen chinesischen Kräuterheilmitteln beschäftigte. Es war eine Herausforderung, diese in einem Bier zu verarbeiten – „diese Dinge haben einen wirklich scharfen, pflanzlichen Geschmack“. Doch mir schmeckt Impossibrew so gut wie jedes andere alkoholfreie Bier: fruchtig und hopfig mit einem Abgang von Zitrusfrüchten. Und ich muss zugeben, dass ich mich nach dem Genuss etwas lockerer und lebendiger fühlte, obwohl das auch an dem spektakulären Nudelgericht liegen könnte, das ich gekocht hatte (mit Gaba-reichem Brokkoli).
Medizinische Bedeutung von Gaba
Die Steuerung des „Aus-Schalters“ im Gehirn hat unzählige Anwendungsmöglichkeiten, die über die Nutzung als Mittel für alkoholähnliche Geselligkeit hinausgehen. Die neurologische Rolle von Gaba wurde in den 1950er Jahren erkannt. Viele Medikamente zielen auf sein System ab, um Symptome wie Epilepsie, Angststörungen und Entzugserscheinungen zu behandeln – daher medizinische Markennamen wie Pregabalin und Gabapentin (die in Deutschland verschreibungspflichtig sind). Auch Medikamente, die häufig gegen Schlafprobleme verschrieben werden, wie Zolpidem (Ambien) oder Benzodiazepine (Valium, Xanax, Temazepam), wirken durch die Verstärkung von Gaba im Gehirn (wenn auch mit Nebenwirkungen).
Gaba-Nahrungsergänzungsmittel aus dem Reformhaus behaupten, etwas Ähnliches zu bewirken, dabei ist die Funktion von Gaba im menschlichen Körper kompliziert. Die orale Wirksamkeit bleibt umstritten. Studien aus 2020 fanden nur begrenzte Belege für stressreduzierende Effekte bei direkter Aufnahme. Zudem passiert Gaba kaum die Blut-Hirn-Schranke, weshalb Alternativen wie Sentia daraufsetzen, die natürliche Aufnahme im Gehirn zu verbessern, anstatt direkt synthetisiertes Gaba in den Körper zu geben.
Dass die orale Einnahme von Gaba nicht besonders wirksam ist, sagt auch Renger Witkamp, Professor für Ernährungsbiologie an der Universität Wageningen in den Niederlanden. „Wenn man jemandem eine große Menge Gaba verabreicht, wird es zwar schnell ins Blut aufgenommen, aber dieser Spitzenwert verschwindet sehr schnell, innerhalb von nur einer halben Stunde. Gaba ist eine natürliche Verbindung, und unser Körper verfügt über alle möglichen Systeme und Enzyme, die es ständig im Gleichgewicht halten.“
Ungeklärte Wirksamkeit der Gaba-Synthese
Heißt das, dass Gaba-Pillen und -Ergänzungen Zeitverschwendung sind? Anekdotisch bestätigen viele Menschen ihre Wirksamkeit, aber im Jahr 2020 fand eine systematische Überprüfung von 14 Studien „begrenzte Beweise für Stress und sehr begrenzte Beweise für den Nutzen der oralen Gaba-Einnahme für den Schlaf“. Gaba spielt sicherlich eine Rolle beim Schlaf, aber die Präparate sind eine Art Lotterie, sagt Prof. John Groeger von der Nottingham Trent University, Mitverfasser des Berichts, der sich seit über 20 Jahren mit dem Thema Schlaf beschäftigt: „Man weiß wirklich nicht, wie viel man einnimmt. Selbst wenn Sie ein Präparat kaufen, auf dem 1.000 Milligramm angegeben sind, gibt es keine empfohlene Dosis.“
Dies sei nicht die ganze Geschichte entgegnet Nutt. Gaba könne auch auf einem anderen Weg eine Wirkung haben: „Der Darm hat viele Gaba-Rezeptoren, und Gaba beeinflusst die Darmfunktion.“ Und wenn man die Darmfunktion verändert, verändern sich auch die Nerven, die vom Darm zum Gehirn führen, und damit auch das Gehirn. Außerdem „gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass das Mikrobiom im Darm Gaba zum Wachstum und zur Kommunikation zwischen den verschiedenen Bakterien nutzt, so dass Gaba selbst auf mehreren Ebenen aktiv sein könnte.“ Zum Thema Gaba-Ergänzungsmitteln sagt Nutt: „Sie könnten funktionieren.“
Japan – Land des Gaba-Hypes
Vor allem an einem Ort wird seit Jahrzehnten auf Gaba geschworen: Japan. „Gaba ist hier wie Vitamin C“, sagt Prof. Hiroshi Ezura vom Forschungszentrum für Pflanzeninnovation an der Universität Tsukuba. „Viele Japaner wissen, was Gaba ist, und viele japanische Lebensmittelunternehmen reichern ihre Produkte damit an.“ Seit 2005 gibt es Gaba-Schokolade, angereichertes Bier und sogar Tomaten mit fünffacher Gaba-Konzentration.
Ezuras Fachgebiet sind diese Tomaten. Sein Team hat mit Hilfe der Genom-Editing-Technologie eine Gaba-reiche Sorte entwickelt. Ihre Kirschtomaten der Sorte Sicilian Rouge sollen nicht nur Stress abbauen und den Schlaf fördern, sondern auch die Elastizität der Haut erhalten und den Blutdruck senken, so Enzura. Ohne handfeste Beweise, die vom japanischen Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales geprüft wurden, könnte er diese Behauptungen nicht aufstellen, sagt er. Auch für ihn persönlich hätten sie sich bewährt: „Normalerweise liegt mein Blutdruck bei 135 oder 140, aber durch den täglichen Verzehr der Tomaten ist er auf 120 gesunken.“
Der Grat zwischen Entspannung und Einbildung
Gaba hat tatsächliche und potenzielle Vorteile, und es sind weitere Forschungen erforderlich, aber nicht jeder, der um Gaba weiß, nimmt Nahrungsergänzungsmittel zu sich. Prof. Witkamp, zum Beispiel. Selbst bei einigen der „wissenschaftlich bewiesenen“ Behauptungen über Gaba ist er vorsichtig und sagt: „Man bekommt eine Menge loser Bruchstücke, die man miteinander verbindet, und sie klingen gut, aber ist das auch bewiesen?“. Das Verbinden loser Beobachtungen zu voreiligen Ergebnissen nennt er Cherrypicking. Um die entspannende Wirkung von Getränken wie Sentia wirklich zu bestätigen, bräuchte man ein gut durchdachtes, placebokontrolliertes Experiment, sagt er. Stattdessen gäbe es „eine Menge subjektiver Gefühle über das ‚Entspannen‘“.
Nutt räumt ein: „Wir bekommen in der Regel positives Feedback, aber es macht wahrscheinlich auch keinen Sinn, wenn uns Leute extra berichten, dass sie keine Wirkung verspürt haben.“ Ähnlich verhält es sich mit der Behauptung von Impossibrew, dass „71 % unserer Kunden sich nach dem Genuss von Impossibrew entspannter fühlten“, denn Wong räumt ein, dass die Daten von selbst ausgewählten Kunden stammen, die bereit waren, den Fragebogen des Unternehmens auszufüllen.
Ich weiß, wie es ist, wenn man zugedröhnt ist. Wenn man nach subtilen Veränderungen sucht, ist es schwieriger
Generell ist es naturgemäß schwierig, etwas Qualitatives wie „Entspannung“ zu messen. „Ich habe im Laufe meiner 50 Jahre eine ganze Reihe verschiedener Drogen zu mir genommen“, sagt Nutt, „ich weiß also, wie es ist, wenn man zugedröhnt ist, aber wenn man nach subtilen Veränderungen sucht, ist es schwieriger.“ Aber eine subtile Veränderung sei mit Gaba das Ziel: „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Leute sich allein hinsetzen und Sentia trinken, um loszulassen; wir glauben, dass es vor allem in sozialen Situationen funktioniert, denn das ist es, was wir wollen – dass Leute in sozialen Situationen aufblühen … denn manchmal sind wir nicht so gut darin, sozial zu sein.“ Ein Gaba-verstärkender Cocktail könnte also genau das unterhaltsame soziale Schmiermittel sein, das wir brauchen, ohne dass wir einen Kater haben – selbst wenn das Gespräch dann meist nur aus „Spürst du schon etwas?“ besteht.